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Festnahme Osman Kavalas : Ein niederträchtiges Manöver

Der türkische Unternehmer und Kulturförderer Osman Kavala 2014 in Brüssel. Bild: dpa

Kurz nach seinem Freispruch wird wieder gegen den Kulturmäzen Osman Kavala ermittelt – steckt dahinter ein Machtkampf in der türkischen Justiz?

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          Keine sechs Stunden waren vergangen, nachdem Osman Kavala und acht weitere Angeklagte im Gezi-Prozess freigesprochen worden waren, er sich aber noch nicht auf freiem Fuß befunden hatte. Da hatte die Istanbuler Staatsanwaltschaft bereits das nächste Verfahren gegen den Kulturmäzen Kavala eröffnet und eine weitere Festnahme für ihn, nicht aber für die anderen Freigesprochenen angeordnet. In dem am Dienstagabend veröffentlichten Schreiben wirft sie Kavala nun vor, er habe sich an dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt.

          Christian Meier
          Politischer Korrespondent für den Nahen Osten und Nordostafrika.

          Mit der Freilassung der Angeklagten hatte die Türkei formell die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfüllt. Der hatte am 10. Dezember 2019 die Freilassung Kavalas im Gezi-Prozess gefordert, da die Anklageschrift keine Beweise für die Anklage enthalte. Da war Kavala bereits seit zwei Jahren und zwei Monaten in Untersuchungshaft.

          Möglicherweise spiegelten die Ereignisse am Dienstagabend einen Machtkampf innerhalb der türkischen Führung und Justiz wider. Davon ist Mithat Sancar überzeugt. Der Juraprofessor ist Abgeordneter der oppositionellen, prokurdischen Partei HDP und stellvertretender Parlamentspräsident. Das sei weder eine schlechte noch eine fehlerhafte Justiz, sagt Sancar, sondern überhaupt keine Justiz mehr. Ein Graben verlaufe zwischen denjenigen, die eine Westbindung einer demokratischen Türkei anstrebten, und denen, die einen autoritären und von anderen Blöcken unabhängigen Staat wollten.

          Ein Drittel der Richter und Staatsanwälte wurde entlassen

          Gelitten hat in den vergangenen Jahren jedenfalls die Qualität der türkischen Justiz. Seit dem gescheiterten Putsch von 2016 ist mutmaßlich ein Drittel der Richter und Staatsanwälte entlassen worden. Die Entlassungen, Umbesetzungen und zahlreichen Neueinstellungen haben zu einer großen Unsicherheit im Justizapparat geführt. Zudem ließen sich Richter und Staatsanwälte auf unbedeutende Posten versetzen, um nicht mehr in politischen Prozessen anklagen und urteilen zu müssen.

          Was am Dienstag mit Osman Kavala geschah, war in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine übliche Praxis der türkischen Justiz bei politischen Häftlingen. Damals wurden meist linke Aktivisten nach dem Verbüßen der Untersuchungshaft scheinbar auf freien Fuß gesetzt, nur um beim Verlassen des Gefängnisses wieder festgenommen zu werden, so dass die Untersuchungshaft von neuem begann. Im vergangenen November wurde der Schriftsteller Ahmet Altan zwar freigesprochen, nach nur einer Woche aber mit einer neuen Anklage wieder inhaftiert. Dasselbe geschah nach nur einem Tag Erdem Eren, einem ehemaligen Abgeordneten der oppositionellen Partei CHP. Und gegen den früheren HDP-Vorsitzenden Salahattin Demirtas wurde ein neues Verfahren eröffnet, um zu verhindern, dass er in anderen Verfahren freigesprochen und auf freien Fuß gesetzt werden könnte.

          Vergebliches Warten: Osman Kavalas Ehefrau Ayse Bugra (links) am Dienstagabend in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri.
          Vergebliches Warten: Osman Kavalas Ehefrau Ayse Bugra (links) am Dienstagabend in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri. : Bild: Reuters

          Kavala wurde laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu von der Polizei für Untersuchungen in ein Krankenhaus und dann in die Istanbuler Polizeizentrale gebracht. Es wurde erwartet, dass innerhalb von 24 Stunden eine gerichtliche Entscheidung über sein weiteres Schicksal getroffen wird. Der Rat der Richter und Staatsanwälte leitete laut einem Anadolu-Bericht am Mittwoch Ermittlungen gegen die Mitglieder des Gerichts ein, das Kavala und die weiteren Angeklagten freigesprochen hatte.

          „Ein niederträchtiger Angriff auf den Staat und das Volk“

          Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan äußerte sich am Mittwochvormittag in Ankara vor der Fraktion seiner AKP zu den Freisprüchen. Die Gezi-Park-Proteste von 2013 seien, wie Militärputsche und „Anschläge von Terrororganisationen“, ein „niederträchtiger Angriff, der es auf den Staat und das Volk abgesehen hat“, äußerte Erdogan. Zudem unterstellte er Verbindungen der Protestbewegung zur kurdischen Terrororganisation PKK. Mit Blick auf Kavala sagte Erdogan, ohne ins Detail zu gehen: „Und mit einem Manöver haben sie gestern versucht, ihn freisprechen zu lassen.“ Erdogan hat wiederholt behauptet, Kavala erhalte Unterstützung von dem amerikanischen Finanzinvestor und Philanthropen George Soros, den er bei einer Gelegenheit als „berühmten ungarischen Juden“ bezeichnete.

          Im Ausland wurde die abermalige Festnahme Kavalas in scharfen Worten kritisiert. Das Auswärtige Amt teilte auf Twitter mit, man sei „bestürzt“. Ein Sprecher ermahnte die Türkei am Mittwoch, in dem Fall „alle rechtsstaatlichen Standards“ einzuhalten, zu denen sie sich verpflichtet habe. Ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten sagte, es lägen keine „glaubwürdigen Gründe“ für die Festnahme Kavalas vor.

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