Verhaftungen in der Türkei : Wollten Putschisten Erdogans Säuberungswelle verhindern?
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Sollte es so sein, hätte der Putschversuch nur die erwünschte Begründung für ein lange geplantes Vorhaben geliefert. Der gescheiterte Putsch hatte für die Regierung auch den Vorteil, dass sie die Suspendierungen vornahm, ohne dass die parlamentarische Opposition dagegen Einspruch erheben konnte.
Das Instrument, mit dem die Regierung mit einem Schlag fast ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte ihres Amtes entheben kann, ist der „Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte“, die oberste Behörde in der Justiz für Personalfragen.
Neben der Suspendierung wurden die Verhaftungen von fast zweihundert hohen Richtern angeordnet: der Richter Alparslan Altan vom Verfassungsgericht, fünf Mitglieder des „Hohen Rats für Richter und Staatsanwälte“, 48 Richter des Staatsrats (Danistay), 140 Richter des Kassationshofs (Yargitay).
Erste Säuberungswelle schon Ende 2013
Das setzt eine Säuberung der Justiz fort, die im Dezember 2013 begonnen hatte. Damals ging Erdogan, noch als Ministerpräsident, gegen jene vor, die er in den Ermittlungen der größten Korruptionsaffäre, die auch ihn belastete, vermutete.
Mehr als 3000 Polizisten wurden ohne rechtliche Grundlage entlassen, 115 Richter und Staatsanwälte wurden abgesetzt, mehrere Hundert Beamten aus dem Dienst entlassen. Summarisch hieß es, sie seien als Anhänger Gülens „Staatsfeinde“ und „Terroristen“. Seither begründet Erdogan sein Vorgehen gegen Dissidenten meist mit dem Kampf gegen den „parallelen Staat“ Gülens. Entlassen wurden jedoch bereits damals vor allem jene, die sich nicht Erdogans Willen beugten.
Im vergangenen November leitete der „Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte“ abermals Ermittlungen gegen 5000 Richter und Staatsanwälte ein, die angeblich Teil von Gülens „parallelem Staat“ sein sollen. ]Im März wurden 680 Richter und Staatsanwälte in den einstweiligen Ruhestand versetzt.
Sik schrieb am Samstag weiter, das Gehirn des Putsches seien Anhänger Gülens gewesen. Er schränkt jedoch gleich ein, dass es sich um eine kleine Zahl handle bei einer nur geringen Unterstützung aus der Armee. Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Yildirim sagten jedoch, der „parallele Staat“ müsse nun gesäubert werden, und sie machten für den Putschversuch die Gülen-Bewegung verantwortlich, dessen Oberhaupt seit 1999 im amerikanischen Exil lebt.
Selbst türkische Kritiker Gülens schließen aber aus, dass nach den bisher erfolgten Säuberungen jeder fünfte Richter oder Staatsanwalt in der Türkei ein Anhänger Gülens sein soll.
Mit der Säuberungsaktion schwächt Erdogan die Unabhängigkeit der Justiz weiter. Wie wichtig für ihn die Kontrolle über die Justiz ist, zeigte sich erst Anfang Juli, als in Ankara ein Gericht einen Sonderparteitag der nationalistischen MHP verbot. Bei dem Parteitag hätte der Vorsitzende Devlet Bahceli gestürzt werden sollen, der in der Vergangenheit zu Erdogan gestanden hatte.
Düstere Prognosen zur Zukunft der Türkei
Düster sieht der frühere Vorsitzende der linken Oppositionspartei CHP, Deniz Baykal, die Zukunft der Türkei. Er schrieb, er habe viele Militärputsche erlebt, und er sei gefoltert worden. Solch eine „Tragikomödie“ aber habe er noch nie gesehen. Das sei ein „inszeniertes Theater“ und bloß ein Vorwand, um Erdogans Macht zu etablieren, schrieb er.
Dann fügte er hinzu, was er nun erwartet: Erdogan werde sich an den Anhängern Gülens rächen, er werde das Militär neu ordnen, und er für sich werde das Präsidialsystem einführen. Und dann, so Baykal, werde Erdogan alle Opposition vernichten.