
EU und Türkei : Mit Erdogan weiter verhandeln
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Eine Frage der Notwendigkeit: Soll Europa mit dem türkischen Staatspräsident Erdogan verhandeln? Bild: AP
Recep Tayyip Erdogans harter innenpolitischer Kurs macht einen Beitritt der Türkei in die EU immer unwahrscheinlicher. Die Zukunft des Landes bleibt ungewiss. Es ist jedoch im Interesse der Europäer, mit Ankara im Gespräch zu bleiben. Ein Kommentar.
Es ist das Recht des türkischen Parlaments, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat in den vergangenen Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass viele Staaten in der Welt diese Strafe vorsehen und vollstrecken, von Teilen der Vereinigten Staaten bis China. Wenn sich die Türkei dieser Liga anschließen will, sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihr allerdings unmissverständlich deutlich machen: Mit einem Staat, dessen Justiz Menschen hinrichtet, wird nicht über einen Beitritt verhandelt.
Abgesehen von diesem wohl unumstrittenen Grundsatz, stellt sich aber die Frage, wie genau die EU auf den sich abzeichnenden zivilisatorischen Rückschritt in Ankara reagieren kann. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Ereignisse seit dem Putschversuch vom 15. Juli deutlicher als je zuvor demonstriert haben, wie begrenzt die europäischen Einflussmöglichkeiten inzwischen sind.
Die Türken verteidigten in der Putschnacht die Demokratie gegen das Militär. Ihre Regierung hat in den Wochen danach Demokratie und Meinungsfreiheit eingeschränkt, Grundrechte ausgehebelt und die Gewaltenteilung, um die es in der Türkei nie gut bestellt war, immer weiter ausgehöhlt. An den Schulen, wo schon Erstklässlern vor Gewalt triefende Videos aus der Putschnacht gezeigt werden, wird eine „Generation Erdogan“ herangezogen: Sie soll fromm sein, chauvinistisch und empathielos gegenüber jeder sozialen, religiösen, ethnischen oder sonstigen Gruppe, die vom Staat als feindlich, volksverräterisch oder terroristisch bezeichnet wird. Dass europäische Politiker gegen diese Entwicklungen protestieren, interessiert Erdogan auch deshalb nicht, weil er in der Türkei bei der Mehrheit äußerst populär ist. Im Schulterschluss mit der chauvinistischen Opposition wird er im kommenden Jahr womöglich sogar per Verfassungsänderung den Parlamentarismus in seiner bisherigen Form abschaffen und eine Präsidialverfassung durchsetzen können, Todesstrafe inklusive. Erdogan sagt, wenn das Parlament ein Gesetz zu deren Wiedereinführung verabschiede, werde er es unterzeichnen. Da er seine Partei kontrolliert, hat er es weitgehend selbst in der Hand, ob es so kommt.
Passende Reaktion der EU
Wie soll die EU darauf reagieren? Sollen die Verhandlungen mit der Türkei beendet oder nur ausgesetzt werden? Soll dem Land der Status als Beitrittskandidat aberkannt oder lediglich ein Katalog mit Bedingungen vorgelegt werden, nach deren Erfüllung die Gespräche wiederaufgenommen werden könnten? Oder wird Erdogan der EU die Entscheidung abnehmen, indem er selbst den Abbruch der Verhandlungen verkündet? Die 2005 formulierten Verhandlungsgrundlagen für die Beitrittsgespräche mit der Türkei sehen eine Aberkennung des Kandidatenstatus nicht vor, durchaus aber das Aussetzen der Verhandlungen für den Fall, dass Ankara die Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte gravierend und dauerhaft verletzt. Die Initiative kann dann von der Kommission oder von einem Drittel der Mitgliedstaaten ausgehen. Eine solche Koalition dürfte sich finden, die zum Aussetzen der Gespräche notwendige Mehrheit wohl auch.
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Allerdings ist es zumindest auf absehbare Zeit unwahrscheinlich, dass die Türkei auch ihren Kandidatenstatus verliert, denn dazu wäre eine einstimmige Entscheidung der EU-Staaten erforderlich. Einige Mitglieder sind derzeit jedoch nicht daran interessiert, Erdogans Türkei aus dem Club der Beitrittskandidaten zu werfen. Dazu gehören Bulgarien und Griechenland, die als Nachbarstaaten bei dem Versuch einer Steuerung der Migrationsströme auf die Partnerschaft mit Ankara angewiesen sind. Zypern hofft bei den laufenden Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der Insel auf eine konstruktive Haltung Erdogans. Eine türkische Unterstützung für die Zypern-Gespräche wurde mit gutem Grund in die Verhandlungsgrundlagen von 2005 aufgenommen.
Türkei soll mit Europa fest verankert bleiben
Eine andere Formulierung in diesem elf Jahre alten Dokument lautet: Sollte Ankara nicht in der Lage sein, die mit einer Mitgliedschaft einhergehenden Verpflichtungen zu erfüllen, müsse sichergestellt werden, dass die Türkei durch engstmögliche Bande in den europäischen Strukturen verankert bleibe. Das lässt sich vielfach interpretieren, schließt aber die Einsicht ein, dass Herrscher kommen und gehen, die Geographie aber bleibt. Ganz gleich, wie die Türkei sich entwickelt, ist es im türkischen und im europäischen Interesse, im Gespräch zu bleiben – es muss ja kein Beitrittsgespräch sein. Doch selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten.
Das zeigt das Beispiel des türkisch-europäischen Flüchtlingsabkommens vom März. Der Forderung, die EU möge es kündigen, steht eine Frage gegenüber: Und was dann? Anders gefragt: Soll Europa mit Erdogan verhandeln? Die Antwort kann nur lauten: ja. Wer meint, mit Putin sprechen zu müssen, muss das auch mit Erdogan tun.