Frankreichs Vorstädte : Die Allgegenwart des Islams
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Flammende Wut: Nach den Unruhen am 2. November in Clichy. Bild: Picture-Alliance
Zehn Jahre nach den Protesten von Clichy-sous-Bois wurde in der Banlieue manches verändert – die muslimische Frömmigkeit aber ist geblieben. Die Trennung zwischen den Religionen geht sogar über den Tod hinaus.
Mehdi zeigt stolz seine knallgelbe Taucherbrille. Mohamed springt in der Warteschlange vor der Kasse ungeduldig auf und ab. „Génial“, einfach klasse, sei das neue Schwimmbad, sagt er, bevor er zur Umkleidekabine stürmt. In Clichy-sous-Bois ist die gerade eröffnete Badeanstalt, ein klotziger Betonbau mit Wellblechverkleidung, mehr als eine Freizeitattraktion. Das hat zumindest Bürgermeister Olivier Klein, ein Sozialist, bei der feierlichen Einweihung bekundet. „Unsere Kinder erhalten das Recht, schwimmen zu lernen“, sagte er. Neun von zehn Kindern unter zwölf Jahren in Clichy-sous-Bois können nicht schwimmen, hat der Bürgermeister ermittelt.
Die gut 31.000 Bewohner von Clichy-sous-Bois, 15 Kilometer im Nordosten von Paris gelegen, sind arm. Sehr arm. Die Arbeitslosenquote liegt in einigen Wohnvierteln bei über vierzig Prozent. Mehr als zwei Drittel aller Haushalte sind nicht einkommensteuerpflichtig.
Das Schwimmbad trägt auf Wunsch des sozialistischen Bürgermeisters den Namen der Amerikanerin Rosa Parks. In den verfallenen Wohnblocks gegenüber vom Schwimmbad am Boulevard Gagarin kennt zwar kaum jemand die Bürgerrechtlerin, die berühmt wurde, weil sie sich 1955 weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Fahrgast zu überlassen. Aber der Kampf der schwarzen Minderheit in Amerika um gleiche Bürgerrechte prägt bis heute das Verständnis der französischen Sozialisten von den Integrationsproblemen in der Banlieue.
Gleiche Rechte für alle, dagegen ist auch in der Warteschlange vor dem Schwimmbad niemand. Im Prinzip. Aber es stört auch nicht, dass kaum Frauen und heranwachsende Mädchen in die Badeanstalt kommen. Dabei steht das Schwimmbad während der Herbstferien allen offen. Eine Mutter mit Kopftuch, die zwei Söhne aus dem Auto aussteigen lässt, sagt, sie gehe nie in der Öffentlichkeit baden. Eine andere, ebenfalls verschleierte Passantin kichert nur verschämt, als sei schon die Frage nach einem Schwimmbadbesuch irgendwie anrüchig. Ein Jugendlicher meint, der Bürgermeister solle nach Geschlechtern getrennte Badezeiten einführen, dann würden auch die älteren Mädchen und Frauen schwimmen gehen. „Sie können sich doch nicht unbedeckt vor den Männern zeigen“, sagt er.
„Übertriebene muslimische Frömmigkeit“
An der Kasse will sich niemand zu der Frage äußern. „Während des Schulschwimmens wird das anders“, sagt eine Mitarbeiterin. Gleich neben dem Schwimmbadbau erhebt sich die frisch renovierte öffentliche Mittelschule „Louise Michel“. Für die sechshundert Schülerinnen und Schüler wird der Schwimmbadbesuch nach den Herbstferien Pflicht. „Ich verlange ebenso wie du nach Luft und Freiheit!“, mahnt ein Zitat der französischen Feministin Louise Michel an der Fassade des Collège.
Der französische Islamforscher Gilles Kepel hat Clichy-sous-Bois unter dem Titel „Banlieue de la République“ eine eigene Studie gewidmet und beschreibt darin das Phänomen „der Allgegenwart des Islams“. Eine „übertriebene muslimische Frömmigkeit“ mache sich in dem Vorort breit, warnte er in dem im Oktober 2011 veröffentlichten Bericht. Mindestens zwei Drittel der Bewohner sind muslimisch, schätzt er. Religiöse Statistiken sind bis heute in Frankreich verboten. Statistisch erwiesen ist, dass in Clichy-sous-Bois 76 Prozent der Minderjährigen mindestens ein Elternteil haben, das nicht in Frankreich geboren wurde.
Die „Allgegenwart des Islams“ ist nicht zu leugnen. An der Metzgerei steht in großen Lettern „Halal“. Auch das Lebensmittelgeschäft wirbt mit Produkten, die von der Moschee genehmigt sind. Vor einem Café sitzen ältere Männer in Dschellabas und trinken Minztee aus silbernen Kännchen. Zwei Mütter schieben Kinderwagen nebeneinander vorwärts und schwatzen. Ihre Haare sind mit Kopftüchern verhüllt. In einem parkenden Auto liegt auf der Rückbank ein Gebetsteppich.
Vor der dem heiligen Denis gewidmeten Kirche unweit des Rathauses stehen Absperrungen und ein Schild „unter Denkmalschutz“. Kepel hat geschrieben, dass sich nichtmuslimische Bewohner von Clichy-sous-Bois während der Unruhen 2005 islamische Attribute wie einen Koran oder einen Gebetsteppich gut sichtbar ins Auto legten, in der Hoffnung, dass die Randalierer ihr Fahrzeug dann verschonten.