Kampf um die Krim : Angst um den kleinen Frieden
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Aufruf zum Denkmalsturz: Krimtataren protestieren vor der Lenin-Statue in der Gebietshauptstadt Simferopol Bild: Aleksandr Kadnikov
Russen und Krimtataren hatten eigentlich gelernt, miteinander auszukommen. Doch nun wird wieder Misstrauen geschürt. Die einen schimpfen auf die „illegale“ Regierung in Kiew, die anderen würden lieber sterben, als sich Russland zu unterwerfen.
Im Innenhof des Parlaments von Simferopol stehen sie sich gegenüber: links die Krimtataren, rechts die Russen. Dunkle Wollmützen und Lederkappen lassen in der Menge wütender Männer alle gleich aussehen. Von links brüllen mehrere tausend Russen „Rossija!“, bis ihnen fast die Stimme bricht. Von rechts donnert es aus ebenso vielen Kehlen „Ukraina!“ zurück. „Putin!“ schreien die Russen, „Allahu akbar!“ (Gott ist groß) antworten die Tataren. Zwischen ihnen steht in dem achteckigen Hof eine einzige Reihe von Polizisten, die keine sichtbaren Waffen tragen und sich nicht einmal untergehakt haben, um die aufgebrachten Massen auseinanderzuhalten.
Wer wem zuerst die Flagge an diesem Tag der Konfrontation entrissen hat, kann man nicht einmal aus wenigen Metern Entfernung mit Sicherheit sagen.
Irgendwann wird ein russisches Banner von einer Angelrute abgerissen, dann eine ukrainische Flagge. Beide Seiten stürmen aufeinander los. Es fliegen Steine. Verzweifelt schreit einer am Eingang ins Parlament in sein Mikrofon und verlangt einen Korridor für Ärzte. Doch jetzt weicht niemand mehr. Von hinten strömen wütende Männer mit roten Augen und Bierfahne hinterher. In der Mitte halten zwei Frauen, die einzigen in der Kampfzone, ein Plakat in die Höhe, das schnell wieder verschwindet: „Russen und Tataren lebten friedlich“ steht darauf. Am Ende dieses Tages wird es einen Toten geben; später soll auch eine Frau im Krankenhaus gestorben sein.
Seit in Kiew eine neue Regierung Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt hat, sind viele Russen und Tataren auf der Krim in Aufruhr und Angst. Die Russen wollen keiner „illegitimen“ Herrschaft gehorchen, die – so glaubt man hier – vom Westen bezahlt wird und durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen ist. Deshalb fordern sie ein Referendum über die Autonomie der Krim und schreien nach russischer Hilfe. Am Donnerstag soll das Regionalparlament – unter den Augen angeblich bewaffneter Männer unbekannter Herkunft, die in das Gebäude vorgedrungen waren – für ein solches Referendum gestimmt haben. Die Abgeordneten setzten auch den Regierungschef ab und den prorussischen Politiker Sergej Aksjonow ein. Aber niemand weiß genau, ob diese Sitzung überhaupt stattgefunden hat und wie viele Abgeordnete teilgenommen haben. Ein Parlamentarier, der verlauten ließ, dass weniger als die Hälfte der Abgeordneten zugegen war, berichtet später von Drohungen gegen ihn.
Simferopol ist die kleine Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, jener Halbinsel, die nur durch einen schmalen Streifen mit der Ukraine verbunden ist. Sommers sieht es hier aus wie in Südfrankreich, deshalb kamen schon die Zaren gern her. Die Halbinsel hat ein eigenes Parlament, doch die Befehle kommen aus Kiew, seit der damalige sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow, selbst Ukrainer, die Krim 1954 an die Ukraine verschenkte. Die Russen der Krim, mit 63 Prozent klar in der Mehrheit, haben es nie ganz verschmerzt, nicht mehr zu Moskau gehören zu dürfen. Viele Ukrainer hier sind dem Kreml ebenfalls zugeneigt.
Die Krimtataren allerdings, mit zwölf Prozent die drittgrößte Gruppe, würden nach eigenem Bekunden eher sterben als unter russischer Herrschaft zu leben. Sie sind die Nachkommen der mongolischen Eroberer, die im 13. Jahrhundert das alte Russland besiegten und dann auf der Krim herrschten. Stalin ließ sie im Zweiten Weltkrieg pauschal als Kollaborateure bestrafen und nach Sibirien und Usbekistan deportieren. Zehntausende starben. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine sind viele der muslimischen Krimtataren in ihre alte Heimat zurückgekehrt, haben ihre historischen Moscheen wiedereröffnet und, bei allen Schwierigkeiten, gelernt, mit den russischen Nachbarn leidlich auszukommen. Doch nun droht dieser kleine Frieden zu zerbrechen.