Massenmord von Babyn Jar : Die Schuld und das Jetzt
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Beispielloses Verbrechen: Am 29. und 30. September wurden in Babyn Jar mehr als 33.000 ukrainische Juden ermordet. Bild: Hamburger Institut für Sozialforschung
Babyn Jar war das größte Massaker im Zweiten Weltkrieg. Vor 75 Jahren ermordeten SS und Wehrmacht 33.771 ukrainische Juden. Bundespräsident Gauck gedenkt in Kiew der Opfer und lenkt den Blick auf die Verbindung in die Gegenwart.
Am Ende seiner Rede an der Schlucht von Babyn Jar, wo SS und Wehrmacht vor 75 Jahren in einem einzigen, sechsunddreißig Stunden dauernden Massenmord 33.771 Kiewer Juden erschossen (so genau zählten die deutschen Todesbürokraten), lenkt Bundespräsident Joachim Gauck den Blick ins Jetzt. Zuvor hat er (laut vorab verbreitetem Redemanuskript) vom „Abgrund der Schoa“ gesprochen, vom „Abgrund unserer eigenen Geschichte“, von den „Verheerungen“, die der deutsche Vernichtungskrieg auch hier, in der Ukraine, hinterlassen hatte, von „unermesslichem Leid“ und „unaussprechlicher Schuld“. Dann aber kommt er im Finale der kurzen Ansprache an der Parkanlage im Norden Kiews, die einmal die Mordschlucht Babyn Jar gewesen ist, unvermittelt aufs Heute zu sprechen: Indem er sich vor den Opfern von einst verneige, stelle er sich zugleich an die Seite all der Menschen, die in der Gegenwart „Unrecht benennen“ und „Verfolgten Beistand leisten“.
Die Opfer und die, welche Unrecht benennen: Der Bundespräsident bleibt nicht im Ungefähren, er nennt Namen. Das Tal von Babyn Jar, eine sandige Rinne in den Uferhügeln des Dnjepr, lag früher vor der Stadt. Heute ist es Teil der ukrainischen Hauptstadt Kiew, und Gauck nennt gleich zu Beginn seiner Rede zwei Kiewerinnen, auf die seine Worte passen: die 1970 geborene Schriftstellerin Katja Petrowskaja und ihre jüdische Urgroßmutter, die an jenem 29. September 1941 in Babyn Jar von einem deutschen Soldaten auf offener Straße erschossen worden ist. „Vielleicht Esther“ hatte sie geheißen, Genaueres weiß selbst die Familie nicht mehr, und genau so heißt denn auch der Roman, den die Urenkelin über sie geschrieben hat: „Vielleicht Esther“.
Aber es gibt in Kiew noch mehr Menschen, auf welche Gaucks Worte von den „Opfern“ und den „Helfern“ passen: Da ist unter den Opfern Galina Jakowlewna Kosyra, die heute als Rentnerin in einem Wohnblock der Vorstädte lebt und die bis heute erzählt, wie ihre Mutter, als die Deutschen sie holten (der Vater war als sowjetischer Soldat an der Front), sich nicht einmal einen letzten Blick auf die Kinder erlaubte, damit die Täter nicht merkten, dass es die ihren waren – die Kinder der Jüdin. Später, als Galina Jakowlewna, damals neun Jahre alt, von nichtjüdischen Verwandten unter Todesgefahr versteckt wurde, hörte sie atemlos am Wohnzimmertisch die Erzählung eines untergetauchten sowjetischen Kriegsgefangenen, der den Deutschen entkommen war, nachdem sie ihn gezwungen hatten, die Toten von Babyn Jar mit Erde zuzuschaufeln: Wie die Juden von Kiew sich am Rand der Schlucht nackt ausziehen mussten; wie sie, manche tot, manche lebend, unter den Salven der Mörder in die Tiefe stürzten; wie ein Mitgefangener in Ohnmacht fiel, weil die Erde sich noch bewegte, die er auf die Körper schaufeln musste.
Sofija Grigorjewna Jarowaja dagegen gehört zu den Helfern. Sie war 15 Jahre alt, als die Deutschen die Ukraine besetzten, und weil sie als nichtjüdische Kiewerin zusammen mit ihrer Mutter während der Besatzung immer wieder versteckten Juden half, hat die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ihr den Titel einer „Gerechten unter den Völkern“ verliehen. Wenn sie die Erinnerung hochholt und von der versteckten Jüdin Tanja Lipnitzkaja erzählt, die ihrem kleinen Sohn während einer Razzia Mund und Nase zuhielt, damit sein Schreien nicht die ganze Familie verriete, dann kämpft sie mit den Tränen. „Mama, er erstickt ja“, hatte Majka, die ältere Tochter, damals geflüstert. „Dann bleibst wenigstens du am Leben“, flüsterte die Mutter zurück.