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Flüchtlingskrise : Russlands Kampfzone

Putin im Kreml Bild: Reuters

Die europäische Flüchtlingskrise ist für den russischen Präsidenten Putin gleich zweifach eine Chance. Er nutzt sie für seine Propaganda – auch die angebliche Vergewaltigung eines Mädchens in Berlin.

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          Der Ölpreis sinkt, Russland muss sparen. Immerhin das erkennt die Regierung von Präsident Putin an. Das ist insofern nicht selbstverständlich, als Putin die Rolle Russlands auf die des Gesetzlosen festgelegt hat: die Großmacht als „Underdog“, der sich schlecht behandelt fühlte und sich nun nicht um Regeln schert; nicht um die des Völkerrechts und nicht um jene, die andernorts als Grundlage dafür gelten, dass die Wirtschaft „effektiv“ arbeitet. Das ist ein Lieblingswort Putins. Doch Russlands Wirtschaft bleibt im Jahr 17 seiner Herrschaft geprägt von staatlich kontrollierten Unternehmen, an deren Spitzen Weggefährten des Präsidenten stehen; von Öl und Gas, trotz aller Reden über Diversifizierung; von Staatsaufträgen, die wie selbstverständlich Putins Freunden zugutekommen. Putin selbst benennt Missstände, aber es ändert sich nichts.

          Friedrich Schmidt
          Politischer Korrespondent für Russland und die GUS.

          Russland ist zum „Downshifter“ geworden. So hat es German Gref, selbst Weggefährte Putins und Chef der größten Bank des Landes, auf den Punkt gebracht: Russland hat den Anschluss an wirtschaftlichen und technischen Wandel in der Welt verpasst. Für seine Äußerung ist Gref von einem Parlamentarier als „erledigtes Vieh“ bezeichnet worden; in puncto Hass schaltet Moskau nicht herunter. Des Kremls Medien zielen nach Belieben auf faschistische Ukrainer, perfide Amerikaner, naive Europäer, Migranten, Homosexuelle und auf „Verräter“ im Land – alles, um die Macht für Putin und seine Clique zu erhalten, deren Reichtum andernfalls dahin wäre. Denn Russlands ineffiziente Wirtschaft ist im Kern nicht reformierbar, ohne dabei das Machtsystem anzutasten.

          Schon die Frage, wer Putin eines Tages folgen soll, ist tabu. Er lächelt mit 63 Jahren wächsern, aber jungenhaft. Mal erklärt er die Krise für beendet, mal soll sich seine Regierung auf „alle denkbaren“ Szenarien vorbereiten. Man könnte sagen, er nimmt die Lage gelassen. Oder sie ist ihm egal. So wie ihm gleichgültig zu sein scheint, dass sich die Hoffnungen auf eine „Wende nach Osten“ und auf einen Aufbruch mit China nicht erfüllen. Selbst um die real existierende Eurasische Wirtschaftsunion ist es still geworden.

          Außenpolitisch wollen derzeit viele bei Putin eine krisenbedingte Kompromissbereitschaft erkennen: Je billiger das Öl, desto milder Putin. Sie glauben, Moskau sei an einer gesichtswahrenden Lösung interessiert, besonders für die Ostukraine. Der Unterhalt der „Volksrepubliken“ ist teuer, die Sanktionen des Westens stören. Aber die russische Führung sieht das Ringen um Machterhalt als Abwehrkampf gegen den Westen. Der Schauplatz mag sich verlagern, aber der Kampf geht weiter. Tatsächlich gilt: Je billiger das Öl, desto größter die Bedrohung.

          Die nächste Präsidentenwahl soll schon in gut zwei Jahren stattfinden. Doch für Putin sind die russischen Wahlergebnisse als Legitimationsquelle nicht genug. Er setzt längst auf Großmachtposen und Geopolitik, verstanden als Konfrontation mit Feinden. Gegen die Gegner im Inneren, die „fünfte Kolonne“ des Westens, richtet sich ein stalinistisches Freund-Feind-Denken. Oppositionelle werden vom politischen Feld ferngehalten, Andersdenkende in absurden Prozessen verurteilt. Das macht zugleich deutlich, wie wenig der Kreml Putins angeblicher Rekordbeliebtheit traut. Die Einschüchterung der „Volksfeinde“ reicht bis zu offenen Morddrohungen, die Putins „Infanteriesoldat“ Ramsan Kadyrow ausgesprochen hat. Putins Sprecher hat sich ausdrücklich hinter den tschetschenischen Gewaltherrscher gestellt. Die Drohungen erscheinen auch als Vorsichtsmaßnahme im Hinblick auf mögliche neue soziale Proteste; zumal weitere Belastungen und Einschnitte unvermeidlich sind, sollte der Ölpreis nicht wieder steigen. Auch dem Machtsystem steht einiges bevor: Es gibt weniger Posten, weniger Gelder zu verteilen. Die Verhaftung der Führung der Teilrepublik Komi wegen Korruptionsverdacht im vergangenen Herbst ist deshalb ein Warnsignal: Jenseits des engeren Machtzirkels ist jeder ersetzbar.

          Im Kampf um die Macht wird Putin weiter demokratische Ideen diskreditieren und entsprechende Aufbrüche vereiteln. So wie Kiews „Majdan“ für Armut und Krieg stehen muss, soll Demokratie für Unsicherheit, Angst und Heuchelei stehen – in Russland und auch andernorts. Deshalb bedeutet Europas Flüchtlingskrise, die Moskau mit seinen Luftangriffen auf Gegner des Assad-Regimes verschärft, für Putin eine Chance, nicht nur, um der eigenen Bevölkerung weiterhin weiszumachen, dass es andernorts schlimmer zugehe als zu Hause. Die Ziele gehen weiter: Was die EU schwächt, nützt dem Kreml. Einzelne Staaten lassen sich besser unter Druck setzen.

          Daher setzt man auf nationalistische Kräfte, vom Front National bis zur AfD. Schon lange schüren Putins Medien Misstrauen gegen westliche Eliten. In den vergangenen Wochen hat die Kreml-Propaganda, im Verein mit der NPD, den Fall einer angeblichen Vergewaltigung durch Migranten in Berlin dazu benutzt, um die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland aufzuhetzen. Die Demonstrationen am vergangenen Wochenende in Berlin und anderswo sowie die dunklen Unterstellungen des russischen Außenministers Lawrow sind der vorläufige Höhepunkt dieser Ausweitung der Kampfzone.

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