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Ein Jahr nach den Anschlägen : Die Frau, die den Terror in Paris mit einem Anruf beendete

Schweigeminute am 16.11.2015 in Paris: Gedenken der Opfer der Terroranschläge. Bild: dpa

Sonia meldete der Polizei, wo sich die Terroristen in Paris versteckten. Heute muss die Zeugin um ihr Leben fürchten – und wartet noch immer auf Hilfe des französischen Staates.

          3 Min.

          Sie rettete Hunderten Menschen das Leben. Am 16. November 2015, drei Tage nach den Terroranschlägen in Paris, wählte eine Frau die Telefonnummer 197 für sachdienliche Hinweise zu den Attentaten. Dank dieses Anrufs kamen die französischen Ermittler auf die Spur von Abdelhamid Abaaoud, dem marokkanisch-belgischen Dschihadisten, der die Terrorkommandos in Paris koordiniert hatte und neue Anschläge in der Pariser Bürostadt La Défense plante. Jetzt hat Sonia, so ihr Deckname, mit Hilfe der Journalistin Claire Andrieux ein bewegendes Buch mit dem Titel „Témoin“ („Zeuge“) veröffentlicht. Sonia lebt seit ihrem entscheidenden Anruf bei der Polizei versteckt, sie hat ihre Arbeit verloren, ihre Freunde und ihre Nachbarn. „Ich bin ein Niemand geworden“, schreibt sie. Dennoch bereue sie nichts.

          Michaela Wiegel
          Politische Korrespondentin mit Sitz in Paris.

          Sonias Geschichte liest sich zunächst wie ein typisches Migrantenschicksal.  In ihrer Nachbarschaft  gilt die Mutter von drei Kindern als gute Seele, eine, die warme Suppe ausgibt für die Bedürftigen in ihrem Viertel  und auch sonst Solidarität großschreibt. Sonias Eltern stammen aus Algerien, sie bewegt sich im Migrantenmilieu einer französischen Vorstadt im verrufenen Département 93, arbeitet schwarz, profitiert von den großzügigen Sozialleistungen, wie sie offenherzig zugibt. Ihr jüngster Sohn hat Scherereien mit der Polizei, sie kann nicht verhindern, dass er die Schule schwänzt und sich an Einbrüchen beteiligt. Sie willigt ein, als ihre Schwester sie bittet, die obdachlose Hasna Ait Boulahcen bei sich aufzunehmen, eine junge Frau mit marokkanischen Wurzeln.  

          Sonia beschreibt ihre Gasttochter eindringlich als „verlorenes Kind der Republik“. Hasna, ein Trennungskind, das in Pflegefamilien aufwuchs, ist  labil und unberechenbar. Mal betrinkt sie sich, nimmt Drogen, prostituiert sich, wird das Opfer von sexueller Gewalt, jobbt in einem Schnellimbiss und sucht schließlich hinter einem Niqab religiösen Halt. Was Sonia nicht weiß, als sie Hasna bei sich aufnimmt: Die junge Frau ist die Cousine des weltweit gesuchten Terroristen Abdelhamid Abaaoud. Am 15. November 2015, bricht der Terrorismus plötzlich in das Leben von Sonia ein. Hasna hat sie gebeten, sie im Auto zu einem Treffpunkt zu fahren, Hasna hat keinen Führerschein, sie bettelt: „Es ist wichtig“. Sonia fährt, der fremde Anrufer mit der Vorwahl „0032“ lockt sie an einen Grünstreifen in der Nähe der Autobahn A86 in Aubervilliers im Norden von Paris. „Ich muss 10-10 rufen“, sagt Hasna, dann werde ihr Auftraggeber sich zeigen.

          Frankreichs Präsident Hollande und die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo enthüllen eine Gedenktafel neben der Bar „La Belle Equipe“. Bilderstrecke
          Ein Jahr danach : Paris gedenkt der Terroropfer

          „Plötzlich sah ich, wie sich ein Paar orangefarbene Sportschuhe aus einem Gebüsch hervorschoben, ein Mann, nicht sehr groß, in einer Bomberjacke und einer Mütze auf dem Kopf, kam auf uns zu“, erinnert Sonia sich. Er grinste und sah einem Terroristen überhaupt nicht ähnlich.  Doch dann fiel Sonia auf, dass sie sein Foto schon gesehen hatte.  „Wer sind Sie, Monsieur?“, fragte sie. „Abdelhamid Abaaoud!“ erwiderte er. „Mein Lächeln gefror. Ich werde schwach, oh mon Dieu, ich schaue Hasna an, mir wird angst und bange“, schreibt Sonia. Abaaoud habe sich mit den Terroranschlägen gebrüstet. Sonia schildert, wie sie ihm vorhielt, er habe Menschen ermordet, Unschuldige getötet. "Er antwortete mir: Nein, sie sind nicht unschuldig, man muss nur sehen, was bei uns in Syrien passiert", sagte sie. Abaaoud habe sehr selbstbewusst gewirkt.

          Abdelhamid Abaaoud war der Cousin von Hasna, die bei Sonia lebte.
          Abdelhamid Abaaoud war der Cousin von Hasna, die bei Sonia lebte. : Bild: AFP

          Abaaoud hatte gedroht, sie „umzulegen“, sollte sie über das Treffen sprechen

          „Er sagte mir, es habe Pannen am 13. November gegeben, und er sei da, damit es keine Pannen mehr gebe“, erinnert sich die Zeugin. Er habe mit einem geradezu sadistischen Lachen angekündigt, dass er neue Terroranschläge plane. „Ha, ha, ihr werdet sehen zum Weihnachtsfest“, soll er gesagt haben und das Geräusch von Gewehrsalven nachgeahmt haben. Die französischen Ermittler haben inzwischen herausgefunden, dass Abaaoud und seine Terrorzelle ein Einkaufszentrum in der Bürostadt La Défense im Westen von Paris, eine Kinderkrippe und ein Polizeikommissariat in dem Geschäftsviertel angreifen wollten. Der Anschlag im Einkaufszentrum „4Temps“ soll bereits für den19. November 2015 geplant gewesen sein.

          Nach der Begegnung  mit dem Terroristen will Sonia Hasna aufgefordert haben, ihren Vetter bei der Polizei zu denunzieren. Sie müsse verhindern, dass Abaaoud neues Unheil anrichte. Aber Hasna blieb stur, sie sagte, sie werde ihren Cousin nicht „verraten“ und werde ihm eine Unterkunft besorgen. Einen Tag später kontaktierte Sonia die Polizei, ohne Hasna einzuweihen. Abaaoud hatte am Telefon gedroht, sie „umzulegen“, sollte sie mit irgendwem über ihr Treffen sprechen.

          Die Angst bleibt : Paris ein Jahr nach den Anschlägen

          Die französische Polizei glaubte zu diesem Zeitpunkt noch, Abaaoud halte sich in Syrien auf. Sonia gab die Adresse des neuen Verstecks von Abaaoud in der Rue Courbillon in Saint-Denis preis. Abaaoud und sein marokkanisch-belgischer Komplize Chakib Akrouhn starben am 18. November 2015 bei der Erstürmung ihres Verstecks durch die Polizei. Hasna wurde von den Trümmern der einstürzenden Decke begraben und erstickte. Sie war zuvor fälschlicherweise in den Medien als „Kamikaze-Frau“ porträtiert worden.

          Sonia schreibt, dass sie „nur ihre Bürgerpflicht“ erfüllt hat. Aber ganz uneigennützig hat sie das Buch doch nicht geschrieben. Sie erwartet vom französischen Staat, dass er ihr und ihren Kindern eine neue Identität gibt. Das Gesetz, das dies erlaubt, ist am 25. Mai von der Nationalversammlung verabschiedet worden. Jetzt wartet Sonia nur noch auf das Ausführungsdekret, um einen neuen Namen und eine neue Existenz zu erhalten. Mit dem Buch will sie das Warten verkürzen.

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