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Unruhen nach Parlamentswahl : Erlebt Kirgistan gerade seine dritte Revolution?

Bild: dpa

Nach Protesten gegen Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl zeichnet sich in dem zentralasiatischen Land ein Umsturz ab. Aber mit großen Umwälzungen müssen die meisten Kirgisen wohl nicht rechnen. Denn die wichtigsten Akteure sind alte Bekannte.

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          Die Kirgisen haben Erfahrungen mit Revolutionen. Gerade sieht es so aus, als erlebe ihr zentralasiatisches Land zwischen Kasachstan, China, Tadschikistan und Usbekistan nach 2005 und 2010 seine dritte. Dabei sind wichtige Akteure alte Bekannte, mit denen sich Präsident Sooronbaj Scheenbekow nie verstand oder überworfen hat. Das lässt vermuten, dass der sich abzeichnende Umsturz nichts Umstürzendes für die meisten der sechseinhalb Millionen Einwohner Kirgistans ändern wird.

          Friedrich Schmidt
          Politischer Korrespondent für Russland und die GUS.

          Am Sonntagabend und dann mit Nachdruck am Montag wurde vor allem in der Hauptstadt Bischkek gegen Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl vom Sonntag demonstriert. Laut den offiziellen Ergebnissen schafften es nur vier von 16 Parteien über die Siebenprozenthürde ins Parlament. Allen voran die Partei „Birimdik“ (Einheit) mit 24,5 Prozent; sie wurde nach der Spaltung der vorher regierenden Sozialdemokratischen Partei neu formiert und gilt als Kraft des Präsidenten, da einer seiner Brüder dort Mitglied ist. Die Partei „Mekenim (Meine Heimat) Kirgistan“ erhielt offiziell 23,9 Prozent; sie gilt als Vehikel eines zu Reichtum gelangten früheren Zollbeamten namens Raimbek Matraimow, der den Spitznamen „Raim-Million“ trägt und gegen Korruptionsenthüllungen klagt.

          Eine Partei, die schlicht den Landesnamen trägt, erhielt 8,8 Prozent, und als einzige Oppositionspartei sollte „Butun (Vereintes) Kirgistan“ mit 7,1 Prozent ins 120-Sitze-Parlament einziehen. Die übrigen zwölf Parteien erhielten nach offiziellen Angaben – auf Grundlage einer automatischen Stimmauszählung, eine händische sollte folgen – nicht genug Stimmen, doch entfiel auf sie insgesamt rund ein Drittel der Stimmen. Zudem waren viele Wähler nicht registriert worden und von den 3,3 Millionen Wahlberechtigten gaben nur gut 56 Prozent ihre Stimmen ab.

          Der Präsident rief seine Gegner zur Ordnung

          Für Unmut sorgten Fälle von Stimmenkauf und der Einsatz der Staatsapparats für die Regierungspartei, was Wahlbeobachter dokumentierten. Derlei ist üblich im bitterarmen Kirgistan, wo sich die wirtschaftlichen und sozialen Nöte in der Corona-Pandemie noch verschärft haben. Scheenbekow sagte Anfang September, die Entscheidung, seine Stimme zu verkaufen, sei „eine persönliche Entscheidung“. Am Montag wurden es dann rasch Tausende, die allein in Bischkek gegen die Ergebnisse demonstrierten und auch auf „Diebe“ in der Regierung schimpften.

          Zwar setzten die Einsatzkräfte zunächst Wasserwerfer, Gummigeschosse, Tränengas und Blendgranaten gegen die Menge ein, zwar wurden ein junger Mann getötet und 590 Personen verletzt. Doch in der Nacht vollzogen sich ziemlich reibungslos Besetzungen des Parlaments- und Präsidentenamtssitzes im sogenannten Weißen Haus (wo es dann brannte und Männer Scheenbekow-Porträts abhängten, boxten und traten), des Geheimdiensts GKNB, der Generalstaatsanwaltschaft, des Staatsrundfunks und des Rathauses der Hauptstadt.

          Zudem verschwand der Präsident, der sich am Dienstag von unbekanntem Ort – seine Sprecherin beteuerte, aus Bischkek – zu Wort meldete und seine Gegner zur Ordnung rief. Er habe die Sicherheitskräfte aufgerufen, nicht das Feuer zu eröffnen, sagte Scheenbekow und bekundete Bereitschaft, die Parlamentswahlergebnisse zu annullieren. Der Präsident sprach von einem Versuch einiger politischer Kräfte, die Macht illegal zu ergreifen. Bald darauf indes annullierte die Zentrale Wahlkommission die Ergebnisse, während Oppositionspolitiker munter Posten verteilten respektive ergriffen: des Hauptstadtbürgermeisters, des Generalstaatsanwalts (gleich zweimal, der erste Anwärter ging nach Protesten), des Innenministers, des Geheimdienstleiters.

          Schon in der Nacht waren prominente Häftlinge freigekommen; zur Befreiung des bekanntesten von ihnen, Aslambek Atambajew, direkt aus dem Untersuchungsgefängnis des GKNB trugen angeblich gar Geheimdienstler selbst bei. Atambajew war von 2011 bis 2017 Präsident Kirgistans und wählte einst Scheenbekow als Nachfolger aus. Der aber erwies sich als machtbewusst und bald trübten sich die Beziehungen ein. Das schlägt sich landestypisch in Justizaktivitäten nieder, die undurchsichtig sind, aber allgemein um Korruption kreisen, die wirklich in Kirgistan verbreitet ist. Atambajew kam 2019 nach einer bewaffneten Gegenüberstellung in Untersuchungshaft und wurde im vergangenen Juni zu elf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Auch andere unter Scheenbekow inhaftierte Politiker wurden jetzt befreit.

          Koordinierungsrat gebildet

          Es bildete sich ein Koordinationsrat aus Oppositionspolitikern; er heißt wie das Gremium in Belarus, dessen Vorgänge die kirgisischen Demonstranten angeblich inspiriert haben. Als Ratsvorsitzender tritt der Anführer von „Butun Kirgistan“, Adachan Madumarow, auf, dessen Partei sich an die Seite der Wahlverlierer gestellt hat und sich jetzt auch stark bei der Postenneuvergabe engagiert. Ein weiteres Ratsmitglied ist Omurbek Babanow, ein Geschäftsmann, der vor allem mit dem Vertrieb russischer Ölprodukte reich geworden sein soll, bei der Präsidentenwahl 2017 mit einer Antikorruptionsagenda gegen Scheenbekow antrat und sich vor juristischen Nachstellungen danach zeitweise nach Moskau absetzte (wo ihn die F.A.Z. einmal in einem italienischen Restaurant sah, aber leider nicht sprechen konnte).

          Madumarow sagte, der Koordinationsrat solle dafür sorgen, dass eine „Regierung des nationalen Vertrauens“ gebildet werde. Auch der in der Nacht aus einer Strafkolonie befreite frühere Ministerpräsident Sapar Issakow trat auf; Atambajews enger Mitstreiter war unter Scheenbekow zu 15 Jahren Haft wegen Korruption im Zusammenhang mit einem Elektrizitätswerk in Bischkek verurteilt worden und rief jetzt dazu auf, „nicht die Ressorts zu verteilen oder an die absolute Macht zu denken“, sondern „in strengem Einklang mit der Verfassung“ die Regierung zu erneuern. Dem Präsidenten bot der Koordinationsrat an, „freiwillig“ zurückzutreten.

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