Serdar Yüksel im Gespräch : „Aus eigener Kraft wird die Türkei es kaum schaffen“
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Ein Mann bindet Luftballons an die Ruinen in Antakya, um an verschüttete Kinder zu erinnern. Bild: AFP
Der Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel reist mit dem SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil ins Erdbebengebiet. Von der bisherigen Hilfe der Bundesregierung ist er enttäuscht – und spricht vom „Versagen der Außenministerin“.
Herr Yüksel, Sie sind SPD-Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, befassen sich aber schon seit Jahren auch mit praktischer Politik für Flüchtlinge. Im Nordirak haben sie zusammen mit der Caritas und anderen Helfern aus dem Ruhrgebiet ein Flüchtlingsdorf aufgebaut. Nach dem verheerenden Erdbeben waren Sie für die Arbeiterwohlfahrt in der Türkei. Was haben Sie dort erlebt?
Ich kam am dreizehnten Tag nach dem Beben mit einer AWO-Hilfslieferung in der nach der Stadt Adiyaman benannten südanatolischen Provinz an. Das Ausmaß der Zerstörung ist apokalyptisch. Ganze Städte sind komplett zusammengefallen, kein Stein ist mehr auf dem anderen. In Adiyaman sind auch neuere Gebäude zusammengebrochen, die nach der seit dem türkischen Beben von 1999 gültigen Bauordnung konstruiert hätten sein müssen. Offensichtlich kam es aber auch da zu Baupfusch und Korruption, eine vernünftige staatliche Bauüberwachung hat nicht stattgefunden. Ich habe viele zerborstene Betonpfeiler gesehen, in denen einfach kein Stahl eingebaut war. Klar, die Region dort ist sehr erdbebengefährdet, es handelt sich um eine Naturkatastrophe. Aber wenn besser gebaut worden wäre, hätte es nicht so viele Tote gegeben. Übrigens sind viel mehr Menschen ums Leben gekommen, als vom türkischen Staat aktuell angegeben.
Was sind Ihre Erkenntnisse?
Die offiziellen Angaben von 50.000 können nicht stimmen. Als ich in Adiyaman ankam, sollten in der Stadt knapp 3.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Aber der Chef der örtlichen Ärztekammer sagte mir, allein dort seien schon mehr als 30.000 Sterbeurkunden ausgestellt worden. Wenn man mit anderen Offiziellen spricht, erfährt man, dass in der ganzen Erdbebenregion mit 200.000 Toten gerechnet wird.
Wie lange wird die Türkei, die ja auch ein schwieriger, aber wichtiger NATO-Partner ist, Hilfe brauchen?
In einer Sache gebe ich dem Präsident Tayyip Recep Erdogan ausdrücklich recht: Es handelt sich um eine Jahrtausendkatastrophe. Dazu kommt, dass sich die Türkei ohnehin seit längerer Zeit in einem wirtschaftlichen Niedergang mit Hyperinflation befindet. Aus eigener Kraft wird das Land es kaum schaffen. Mich würde es nicht wundern, wenn sich die Erdbebenschäden auf mehr als 200 Milliarden Euro summieren würden. 2021 hat die Juli-Flut in Deutschland ja schon Schäden in Höhe von 35 Milliarden Euro verursacht.
Erdogan verspricht den Überlebenden der Katastrophe, in einem Jahr hätten sie wieder ein festes Dach über dem Kopf.
Das ist Wahlkampfrhetorik, völlig illusorisch. Mehr als einem Monat nach dem Beben haben immer noch Tausende nicht mal Zelte bekommen. Erdogan steht enorm unter Druck, weil nach der Trauer die Wut wächst.
Wie sieht es mit der deutschen Hilfe aus? Greifen die versprochenen Visaerleichterungen?
Definitiv nicht. Es gibt keine erleichterte Visavergabe, das kann man sogar auf der Homepage der Botschaft nachlesen. Aus meiner Sicht hat Außenministerin Annalena Baerbock Erwartungen geweckt, die sie nicht erfüllt hat. Das ist bitter für die Menschen dort. Das war aus meiner Sicht nur ein PR-Coup. Sie war ja mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser in Hatay. Die beiden haben sich vor einem sogenannten Visa-Bus fotografieren lassen. Doch der Bus ist wenig später wieder nach Ankara abgezogen worden. Bisher sind nur sehr wenige Visa vergeben worden. Dabei wären Zehntausende türkischstämmige Menschen in Deutschland in der Lage, mit einer Garantieerklärung ihre Angehörigen für drei Monate herzuholen. Dass das inmitten dieser Katastrophe nicht genutzt werden kann, ist ein Versagen der Außenministerin.