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Einwanderung in Kanada : Angst vor europäischen Verhältnissen

Kanada ist ein klassisches Einwandererland

Kanada ist ein klassisches Einwandererland Bild: dpa

Kanada braucht Menschen aus aller Welt. Zur Steuerung der Einwanderung von Fachkräften gibt es seit Jahrzehnten ein Punktesystem. Das Land muss aber noch wählerischer werden. Der Konsens über die Immigrationspolitik bröckelt.

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          Jetzt hat die Angst auch Kanada erreicht. Es ist die Angst vor europäischen Verhältnissen bei der Einwanderung. Als vor gut zwei Wochen die führenden Köpfe des „Zentrums zur Reform der Einwanderungspolitik“ in der Hauptstadt Ottawa ihr Programm vorstellten, forderten sie eine „umfassende Reform unseres Immigrationsgesetzes“. Und das bedeutet: nicht mehr Einwanderer, sondern weniger.

          Matthias Rüb
          Politischer Korrespondent für Italien, den Vatikan, Albanien und Malta mit Sitz in Rom.

          In Kanada, dem Musterland für Immigranten, das ohne Einwanderung gar nicht vorstellbar ist, und wo jeder Sechste der gut 34 Millionen Einwohner im Ausland geboren wurde, gleicht eine solche Forderung dem Aufruf zum Schlachten heiliger Kühe. Sogleich wurde der konservativen Denkfabrik das Etikett der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus angeklebt. Dabei will das Zentrum nach eigenen Angaben genau das verhindern: wachsende Fremdenfeindlichkeit und das Erstarken rechtsradikaler Parteien wie in vielen europäischen Ländern als Ergebnis der dort verhinderten Debatte über Einwanderungspolitik.

          Brüchiger Konsens

          Tatsächlich beginnt der Konsens, wonach Kanadas Immigrationspolitik beispielhaft sei, jetzt zu bröckeln. Vor knapp zwei Jahrzehnten erreichte die Einwanderungsquote ihren Höhepunkt und ist seither kaum zurückgegangen. Damals war es erklärtes Ziel, jährlich ein etwa einprozentiges Bevölkerungswachstum allein durch Einwanderung zu erreichen. Dieses ehrgeizige Ziel wurde zwar verfehlt, doch nimmt Kanada seither jährlich immerhin etwa 250.000 Einwanderer auf.

          Bild: F.A.Z.

          Gut drei Fünftel sind Fachkräfte, weniger als zehn Prozent kommen als Flüchtlinge mit Asylanspruch, der Rest kommt auf dem Wege der Familienzusammenführung ins Land. Die allermeisten Einwanderer erhalten früher oder später die kanadische Staatsangehörigkeit.

          Ausgeklügeltes Punktesystem

          Zur Steuerung der Einwanderung von Fachkräften wurde schon 1967 ein Punktesystem eingeführt, das seither angepasst und erweitert wurde. Wer die jeweils vorgeschriebene Mindestzahl an Punkten erreicht, kann sich um ein Einwanderungsvisum bemühen, ohne dass ein Arbeitgeber den Antrag zuvor unterstützt haben müsste.

          Wer zum Auswahlverfahren zugelassen wird, muss sich freilich noch bis zu zwei Jahre gedulden, ehe er nach Kanada übersiedeln darf. Insgesamt werden für Bildungsstand, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Lebensalter und Integrationsfähigkeit 90 Punkte vergeben; wer ein festes Stellenangebot nachweisen kann, bekommt zehn Punkte zusätzlich, womit die Höchstpunktzahl auf 100 steigt. Zuletzt wurde im Jahr 2003 die Mindestpunktzahl zur Zulassung zum Auswahlverfahren von 75 auf 67 gesenkt, um den Bedarf der boomenden kanadischen Wirtschaft an Fachkräften zu decken.

          Maximal 25 Punkte gibt es im Kriterium Ausbildung (für einen Doktortitel oder einen vergleichbaren Studienabschluss); wer nur die Schule besucht hat, bekommt lediglich fünf Punkte. Mindestens vier Jahre Arbeitserfahrung sind für 21 Punkte gut, ein Jahr Berufserfahrung bringt immerhin noch 15 Punkte. Derzeit werden Visumsanträge für Fachkräfte in 29 Berufssparten akzeptiert, darunter viele Tätigkeiten im Gesundheitswesen und in der Gastronomie. Dennoch wird jetzt öfter über eine Begrenzung der Einwanderung diskutiert.

          Sakrosankte Einwanderungspolitik?

          Obschon Kanada die Wirtschaftskrise besser gemeistert hat als andere Industriestaaten, ist die Arbeitslosenquote mit acht Prozent für kanadische Verhältnisse sehr hoch. Freie Stellen sollten mit arbeitslosen Einheimischen besetzt werden, statt weiter die Einwanderung zu fördern, argumentieren Kritiker der bisher sakrosankten kanadischen Einwanderungspolitik. Zudem wird auf eine wachsende Gettobildung in Ballungsräumen mit einem besonders hohen Anteil von Einwanderern hingewiesen: Dort gerieten immer mehr Neuankömmlinge in die Armutsfalle.

          Der demographische Nutzen durch die Einwanderung junger Fachkräfte werde durch den großzügig geregelten Nachzug von deren Eltern im Rahmen der Familienzusammenführung wieder zunichtegemacht: Weil die älteren Einwanderer im kanadischen Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr Leistungen in Anspruch nähmen, würden die zusätzlichen Zahlungen arbeitstätiger Einwanderer in die sozialen Sicherungssysteme mehr als aufgebraucht. Doch selbst beim „Zentrum zur Reform der Einwanderungspolitik“ will man nichts von einem Ende der Einwanderung wissen. Kanada müsse bloß noch wählerischer werden.

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