Pilotversuch in Liverpool : Massentests für alle Briten?
- -Aktualisiert am
Vier sind schon ein Seminar: Die Beatles-Statue an der Uferpromenade von Liverpool Bild: AP
In Kürze beginnt in Liverpool ein Pilotprojekt: Alle 500.000 Einwohner sollen sich wöchentlich auf Corona testen lassen können. Die wissenschaftlichen Chefberater der Regierung Johnson geraten derweil unter Druck – wegen veralteter Zahlen.
Zweitausend Soldaten rücken in diesen Tagen in Liverpool ein, um das Pilotprojekt „Moonshot“ zu unterstützen. Von Freitag an soll allen, die in der Stadt leben und arbeiten, wöchentlich ein Corona-Test angeboten werden. Die Regierung stellt dabei erstmals massenhaft Schnelltests zur Verfügung, die sie überwiegend aus China und Südkorea gekauft hat. „Diese Tests werden die vielen Tausend Menschen in der Stadt, die keine Symptome haben, aber andere unwissentlich anstecken können, identifizieren“, sagte Premierminister Boris Johnson. Sollte das Pilotprojekt erfolgreich sein, will die Regierung bis Weihnachten Millionen der neuen Schnelltests im ganzen Land einsetzen.

Politischer Korrespondent in London.
Geplant ist, in Liverpool mobile Teststationen vor Schulen, Krankenhäusern und Arbeitsstätten aufzubauen. Bürgermeister Joe Anderson kündigte an, Bürger auch in ihren Wohnungen testen zu lassen. Die Kapazitäten erlaubten es, dass sich die etwa 500.000 Liverpooler einmal pro Woche ohne Voranmeldung testen lassen können, sagte er. Anderson hatte sich dafür eingesetzt, das Pilotprojekt in seine Stadt zu ziehen. Anders als sein Bürgermeisterkollege und Parteifreund Andy Burnham im Großraum Manchester arbeitet der Labour-Politiker reibungslos mit der konservativen Regierung in London zusammen. Anderson äußerte die Hoffnung, dass die Liverpooler bei einem erfolgreichen Verlauf des Versuchs das Weihnachtsfest „halbwegs normal“ würden feiern können.
Mit Spannung wird nun beobachtet, wie viele Bürger das Angebot annehmen. Es besteht keine Testpflicht, und auch Arbeitgeber können ihre Beschäftigten nicht zu einem Test zwingen. Die Gewerkschaft GMB warnte allerdings davor, dass einige Unternehmen die Corona-Tests wie betriebliche Gesundheitsuntersuchungen behandeln könnten. Eine Verweigerung würde zwar nicht als grobes Fehlverhalten eingestuft, könnte aber disziplinarische Schritte nach sich ziehen.
Der Lockdown steht vor der Tür
Liverpool war die erste Stadt gewesen, die wegen hoher Infektionszahlen Mitte Oktober auf die (höchste) Gefahrenstufe Drei gesetzt wurde. An diesem Donnerstag soll das Drei-Stufen-System von einem englandweit geltenden Lockdown abgelöst werden, der bis zum 2. Dezember gilt. Die Menschen sind dann angehalten, ihr Haus nur noch für notwendige Arbeit und essentielle Erledigungen zu verlassen. Dazu gehört das Einkaufen von Nahrungsmitteln, das Aufsuchen von Ärzten oder Corona-Teststationen, der Schulbesuch, Hilfe für Bedürftige oder die körperliche Betätigung an der frischen Luft. Pubs und die meisten Geschäfte müssen schließen, ebenso Friseure, Theater und Kinos. Restaurants dürfen nur noch außer Haus liefern.
Johnson, der sich an diesem Mittwoch die Zustimmung der Abgeordneten für seinen Kurs einholen will, sieht sich wachsendem Widerstand gegenüber. Die Kritiker des Lockdowns, die sich überwiegend in seiner eigenen Partei befinden, fühlen sich bestärkt von Zahlen des Londoner King‘s College, die am Dienstag bekannt wurden. In den Worten von Professor Tim Spector lässt sich eine „Plateauisierung und ein leichter Rückgang neuer Fälle in England, Wales und Schottland erkennen“. Sein Kollege Carl Heneghan, Leiter des Zentrums für evidenzbasierte Medizin an der Universität Oxford, rechnete am Dienstag sogar vor, dass sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Liverpool seit dem Höhepunkt vom 7. Oktober fast halbiert hätte. Auch die Zahl der stationär behandelten Patienten habe sich stabilisiert. Heneghan leitet daraus ab, dass das regionale Stufensystem wirkt. Er forderte, etwaige Lockdown-Maßnahmen auf „echte Daten“ zu stützen und nicht auf Projektionen, die sich allzu oft als fehlerhaft erwiesen hätten.
Die beiden wissenschaftlichen Chefberater der Regierung, Patrick Vallance und Chris Whitty, sind unter Beschuss geraten, seit die Zahlenprojektionen, mit denen sie am Samstag die Notwendigkeit des Lockdowns begründeten, von anderen Fachleuten als veraltet und „alarmistisch“ kritisiert wurden. Infrage gestellt wird insbesondere die Voraussage, dass die Todeszahlen im Vereinigten Königreich ohne einen Lockdown am 20. Dezember bei 4000 am Tag liegen würden. Dieser Wert sei am 9. Oktober und damit vor der Einführung des Stufensystems errechnet worden, kritisierten mehrere Wissenschaftler. Hätten die Chefberater am Samstag eine aktuelle Berechnung vorgenommen, hätten sie vor 1000 Toten am Tag warnen müssen, erklärten Forscher an der Universität Oxford.
Futter erhielten die Lockdown-Kritiker auch von der jüngsten Todesstatistik. Am Montag wurden 136 Corona-Tote gemeldet, nachdem deren Zahl in den sieben Tagen zuvor bei durchschnittlich 265 gelegen hatte.