Immer mehr Corona-Fälle : Warum explodiert die Infizierten-Zahl in Russland?
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Krankenwagen, die Patienten unter Corona-Verdacht transportieren, stehen aufgereiht vor dem Pokrowskaja-Krankenhaus in Sankt Petersburg. Bild: dpa
In Russland ist die Infektionszahl innerhalb einer Woche um zwei Drittel auf knapp 135.000 Corona-Fälle gestiegen. Kirchen gelten als Infektionsherde – und verbreiten häufig Verschwörungstheorien.
Weit in Russlands Osten, im Gebiet von Tschajandi in der jakutischen Teilrepublik, fördern mehr als 10.000 Arbeiter für den Gasprom-Konzern Gas und Öl. Doch seit Mitte April stehen sie unter Quarantäne, nachdem sich einige von ihnen mit dem Coronavirus infiziert hatten. Vorige Woche versammelten sich Hunderte der Männer zu einer Protestkundgebung. Online-Medien verbreiten Videoaufnahmen davon, haben, um Bußgelder zu vermeiden, Flüche übertönt: Es piept fast ununterbrochen. Die Aufnahmen zeigen einige der Wohncontainer, in denen die Männer auf engem Raum untergebracht sind.
Demonstranten schreien, man behandele sie „wie Schweine“, es gebe keine Schutzmaßnahmen, man stecke sich untereinander an. „Wo sind die Masken?“ Die Behörden versprachen, die Arbeiter wegzubringen, testeten angeblich alle auf das Virus, flogen die Tests in ein Privatlabor ins Tausende Kilometer entfernte Moskau. Tagelang gab es keine Ergebnisse. Jetzt sagte eine Mitarbeiterin des Gesundheitsministeriums der Zentralregierung, rund ein Drittel der Arbeiter von Tschajandi sei „vorläufig positiv“ getestet worden, zeige aber „keine Symptome“.
Offiziell gibt es wesentlich weniger Infektionsfälle
Das wären mehr als 3000 Infektionsfälle. Doch das Oberhaupt der Teilrepublik – mit offiziell nur 282 Corona-Fällen – teilte am Sonntag mit, 39 der Arbeiter seien infiziert. Dabei hatte sogar die Stellvertreterin des Republikoberhaupts am Samstag mitgeteilt, fast 3500 Arbeiter seien positiv getestet worden, aber den Eintrag in einem Messaging-Dienst kurz darauf gelöscht.
Das Virus hat immer mehr Bereiche der russischen Gesellschaft im Griff. Nachdem die Streitkräfte lange als coronafrei gegolten hatten, berichtete das Verteidigungsministerium am Wochenende von 2903 Fällen und sprach von einer „großen Bedrohung“. Unklar ist, wie viele Priester und Mönche der Russischen Orthodoxen Kirche mit dem Coronavirus infiziert sind. Doch gelten Kirchen und Klöster mittlerweile als Infektionsherde. Betroffen sind auch Leitungsstellen in der Kirchenhierarchie. Mehrere ranghohe Kleriker sind an Covid-19 gestorben. Zwar hat die Führung um Patriarch Kirill die Gläubigen dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben, statt Gottesdienste zu besuchen. Aber Kirchen und Klöster sind nicht geschlossen.
Zeichen deuten auf Milde
So bleibt das von den Regionen vor gut einem Monat verhängte „Regime der Selbstisolation“, eine weitreichende Ausgangssperre, eine weltliche Angelegenheit. Besonders unter orthodoxen Fundamentalisten sind Verschwörungstheorien über das Virus verbreitet oder ein Irrglaube wie der, dass es unmöglich sei, sich in einem Gotteshaus anzustecken.
Eine Gruppe Intellektueller beklagte am 25. April in einem offenen Brief an Patriarch Kirill, dass Priester und manche Bischöfe seine Aufrufe ignorierten und mancherorts gar Infektionsfälle von Geistlichen verschwiegen. Daraufhin erinnerte der Patriarch an die Möglichkeit, Kleriker, die gegen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verstießen, kirchengerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Doch erste Zeichen deuten auf Milde: Ein besonders reaktionärer Prediger im Ural, der in einer Osterbotschaft behauptet hatte, es gebe keine Pandemie („Die haben sich Kinder des Satans ausgedacht, um den russischen Menschen nicht in die Kirche zu lassen“), und wüste Deportationsaufrufe äußerte, erhielt nur ein einstweiliges Predigtverbot.
Keine „Vertiefung der Pandemie“
Die offizielle Corona-Totenzahl in Russland ist mit insgesamt 1280 am Sonntag immer noch relativ niedrig, wird aber von vielen angezweifelt. In den vergangenen Tagen sind die Infektionszahlen rasant gestiegen, innerhalb einer Woche um zwei Drittel von 80.949 am letzten Aprilsonntag auf 134.687 am Sonntag. Von Samstag auf Sonntag stieg die Zahl erstmals fünfstellig, um 10.633, und damit um fast 8,6 Prozent.
Das bedeute aber keine „Vertiefung der Pandemie“ in Russland, sagte Alexander Ginzburg, Leiter eines epidemiologischen Wissenschaftszentrums, der Nachrichtenagentur Interfax: Die Zahlen stiegen, da mehr getestet werde, innerhalb der vergangenen zehn Tage habe sich die Zahl der Tests verdoppelt. Daher müsse der Anstieg niemanden erschrecken. Mit offiziell 68.606 wird mehr als die Hälfte der Fälle in Moskau verzeichnet; der Bürgermeister der Hauptstadt, Sergej Sobjanin, schätzte die tatsächliche der Zahl der Infizierten dort unter Berufung auf eine Stichproben-Untersuchung nun auf rund zwei Prozent der Bewohner; das wären mehr als eine Viertelmillion Menschen.
Über den Ministerpräsidenten, der am Donnerstag über seine Corona-Infektion informiert hatte, sagte ein Sprecher am Sonntag, Michail Mischustin fühle sich „insgesamt normal“. Mischustin werde in einer medizinischen Einrichtung behandelt, „arbeitet mit Dokumenten und tauscht sich aktiv mit Kollegen am Telefon aus“. Freilich sind seit Freitag auch der Bauminister und dessen Stellvertreter Corona-Patienten. Noch ist unklar, wann der „Peak“ der Infektionen in Russland erreicht wird. Doch schon warnt die Verbraucherschutzbehörde vor einer „zweiten Welle“ im Herbst.