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Corona in Israel : „Warum ruiniert ihr die Lebensgrundlage der Menschen?“

Auch das Strandleben muss bald an den Wochenenden pausieren, wie hier in Tel Aviv. Die Aufnahme ist aus dem Mai. Bild: EPA

Von einem Tag auf den anderen schließt Israel Einkaufszentren und Cafés. Bald sind auch die Strände tabu. Die Entscheidung sorgt für Unmut.

          3 Min.

          Seit gut zwei Wochen schlägt in Israel die zweite Corona-Welle durch. Die Infektionszahlen steigen beständig, und seither ringt die israelische Führung mit Maßnahmen, die größtenteils bislang nicht eingeführt wurden und über die weiterhin große Uneinigkeit herrscht. Jetzt, in der Nacht auf Freitag, beschloss die israelische Regierung erste Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Sie gelten für die Wochenenden. Und sorgen für Unmut.

          Jochen Stahnke
          Politischer Korrespondent in Berlin.

          Schon am Freitagnachmittag sollen von 17 Uhr an bis zum israelischen Wochenbeginn um fünf Uhr früh am Sonntag Restaurants, Cafés, Museen und Einkaufszentren geschlossen bleiben, ebenso Fitnessstudios und andere Sporteinrichtungen. Vom nächsten Wochenende an sollen auch die Strände geschlossen werden, dieses Wochenende jedoch noch nicht, wie das Büro des Ministerpräsidenten bekanntgab. In geschlossenen Räumen sind nicht mehr als zehn Personen erlaubt, unter freiem Himmel zwanzig, sofern es sich nicht um eine Arbeitsumgebung oder um Kernfamilien handelt. Hotelrestaurants dürfen bis zu einer Kapazität von 35 Prozent geöffnet bleiben. Ausgangsbeschränkungen für Bürger gibt es bislang nicht. Das Kabinett empfahl eine Schließung der Sommerschulen und Ferienlager.

          Änderung in letzter Minute

          Derweil kritisierte Bildungsminister Joav Galant, in diese Frage nicht eingebunden worden zu sein. „Ein ganzes Land versucht die Bestimmungen für das Wochenende zu verstehen und schafft es nicht“ schimpfte Oppositionsführer Jair Lapid. Einige Restaurantbesitzer haben bereits angekündigt, den Vorschriften nicht Folge zu leisten. Es sei undenkbar, so eine Entscheidung mitten in der Nacht von einem Augenblick zum nächsten zu treffen, denn man habe bereits Waren für das lukrative Wochenendgeschäft eingekauft.

          Der Vorsitzende der oppositionellen Rechtspartei Naftali Bennett kritisierte, dass durch die Maßnahmen Hunderte Arbeitnehmer betroffen seien. „Warum ruiniert ihr die Lebensgrundlage der Menschen?“ Der Vorsitzende des Verbandes für Öffentliche Gesundheit Hagai Levine sagte: „Es liegt keine epidemiologische Logik hinter einem Lockdown an Wochenenden oder an Zugangsbeschränkungen im Freiluftbereich.“ Ein innerhäuslicher Lockdown könne im Gegenteil eher noch mehr Infektionen verursachen, argumentierte der Epidemiologe. Und der Vorsitzende der oppositionellen Partei Yisrael Beitenu, Avigdor Lieberman, sagte, die Regierung treffe täglich neue „bizarre Entscheidungen“ und lege ein amateurhaftes Verhalten an den Tag.

          Und tatsächlich: Am Freitag um kurz vor 17 Uhr änderte die Regierung wieder einmal die Richtung. Restaurants dürfen nun doch bis Dienstag offen bleiben, gab Netanjahu bekannt.

          Fünf Monate nach Ausbruch der Epidemie in Israel, welche die Behörden durch rasche Grenzschließungen und Ausgangssperren zunächst rasch in den Griff bekam, ist es nicht nur zu einer zweiten Welle mit täglich mehr als 1800 Neuinfektionen gekommen (bei einer Einwohnerzahl von knapp neun Millionen). Es zeigt sich auch, dass wenig Vorkehrungen getroffen wurden, mir ihr umzugehen. Bei neunzig Prozent der Infizierten ist den Behörden heute unklar, wo sich der Infektionsherd befindet. Eine Öffnungsstrategie, die sowohl medizinische als auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigte, gab es nicht. In der Zeit niedriger Infektionszahlen wurden etwa die Minister für Finanzen und Gesundheit sowie ranghohe Beamte ausgetauscht, während der Ministerpräsident vorrangig mit seinem eigenen Strafprozess beschäftigt war und öffentlich die Annexion im Westjordanland vorbereitete. Im Kabinett häufen sich mittlerweile widersprüchliche Ankündigungen, während die Arbeitslosenquote bei über zwanzig Prozent steht.

          Der Zentralbankchef selbst kritisierte am Donnerstag die vom Kabinett bislang nicht verabschiedete Ankündigung Netanjahus, nun jedem israelischen Haushalt einmalig zwischen umgerechnet zweihundert und knapp achthundert Euro zu überweisen, als ineffizient. Die Maßnahmen würde den Staatshaushalt mit weiteren anderthalb Milliarden Euro belasten. Gleichwohl sind mindestens zwanzig Prozent der Israelis im öffentlichen Sektor beschäftigt, der von den Gehaltseinbußen bislang kaum betroffen ist und die dieses Geld im Gegensatz zu anderen nicht dringend benötigen. Der frühere Finanzminister Avraham Schochat nannte das Programm in der Zeitung „Maariv“ ein „Bestechungsgeld“, hinter dem „keine wirtschaftliche Logik“ stecke.

          Netanjahu verteidigte die bevorstehenden Schließungen im Kabinett. Zwar habe man tatsächlich nicht ausreichend epidemiologische Daten zur Hand, gleichwohl bestehe die Gefahr von 1600 Patienten an Beatmungsgeräten innerhalb der kommenden drei Wochen, wenn man nicht handle und neue Beschränkungen einführe. „Sogar in Deutschland mit einem exzellenten Testsystem wird ein umfassender Lockdown erwogen bei nur vierhundert (neuen) täglichen Fällen“, sagte Netanjahu. Israel sei nicht das einzige Land, das Schwierigkeiten habe, Infektionsketten nachzuvollziehen.

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