Abgeriegelt: Ein Bewohner eines Wohnquartiers während des Lockdowns in Schanghai. Bild: Reuters
Das Regime in Peking scheitert beim Versuch, das Virus zu besiegen – doch Kritik wird immer unbarmherziger bekämpft. Der Führerkult um Xi Jinping verlangt absolute Gefolgschaft.
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Als Cong Yi mit ihrer drei Jahre alten Tochter, ihrem Mann und ihren Eltern in ein Lager für Corona-Infizierte abtransportiert wurde, stand ein Nachbar am Fenster und filmte sie. Das Video lud er anschließend im Haus-Chat hoch. „Fast alle haben applaudiert“, schreibt die junge Mutter im Netzwerk Weibo. Die Nachbarn waren froh, dass die positiv Getesteten aus ihrer Mitte entfernt wurden. Mit allen Mitteln hatten sie zuvor versucht, die Familie aus dem Haus zu vertreiben. Nach 14 Tagen im Lager und zwei Negativtests durfte Cong Yi in ihre Wohnung zurückkehren. Bis heute wird sie von ihrem Nachbarn beschimpft, wenn sie auch nur die Tür öffnet, um eine Essenslieferung hereinzuholen. In jeder Gesellschaft gibt es missgünstige Nachbarn. Doch Cong Yi sieht mehr darin. Einen Abgrund.
Aus ihrer Sicht gibt es ein Datum, an dem sich dieses Loch im Boden öffnete. Es war der 6. April; der Tag, an dem die Zentralregierung das Zepter in Schanghai übernahm. Bis dahin, schreibt Cong Yi, habe unter den Verantwortlichen eine „Schanghaier“ Haltung vorgeherrscht: pragmatisch, rational, lösungsorientiert. Danach aber habe sich die Atmosphäre in der Gesellschaft verändert. Andere Meinungen und Emotionen seien zum Vorschein gekommen. „Als der Angriff der Trolle begann, ist mein Wertesystem zusammengebrochen.“ Sie spricht von einem Stigma, als habe jemand ihr wegen ihrer Infektion einen Hut aufgesetzt. So wie es während der Kulturrevolution jenen geschah, die das Regime für vogelfrei erklärte.
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