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China : Mindestens 156 Tote bei Gewaltausbruch in Uiguren-Region

  • Aktualisiert am
Nach den Ausschreitungen in der Provinzhauptstadt Urumqi

Nach den Ausschreitungen in der Provinzhauptstadt Urumqi Bild: AP

Bei Protesten und Zusammenstößen zwischen muslimischen Uiguren und Chinesen in der Unruheregion Xinjiang sind mindestens 156 Menschen getötet worden, Exil-Uiguren sprechen gar von 800 Toten. Peking wirft militanten Muslimen Separatismus und Terrorismus vor.

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          Bei schweren Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und uigurischen Demonstranten in Urumtschi, Hauptstadt der chinesischen Provinz Xinjiang, hat es am Sonntag und in der Nacht zum Montag zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua sprach zunächst von 140 Toten und 828 Verletzten, später erhöhte Xinhua die Zahl der Opfer nach dem Tod einiger Schwerverletzter auf 156. Der „Weltkongress der Uiguren“ (WUC), eine Organisation von Exil-Uiguren, spricht von 800 Toten.

          Rund 3000 Uiguren versammelten sich am Sonntagnachmittag auf dem „Platz des Volkes“ im Zentrum Urumtschis. Sie forderten eine unabhängige und öffentliche Untersuchung eines Streits zwischen uigurischen und chinesischen Arbeitern in der südchinesischen Provinz Guangdong. Dort waren am 26. Juni zwei Uiguren getötet worden.

          Schüsse und Detonationen

          Als die Polizei versuchte, die Demonstration aufzulösen, eskalierte die Situation: Mit äußerster Härte gingen die Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vor. Schüsse fielen, Explosionen waren zu hören, gepanzerte Fahrzeuge fuhren auf. Uigurische Augenzeugen berichten, die Polizei habe grundlos das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Asgar Can, Vizepräsident des WUC, sagte dieser Zeitung: „Die chinesischen Sicherheitskräfte sind zunächst mit Tränengas gegen die Demonstranten vorgegangen. Dann haben sie auf die Menschenmenge geschossen.“

          Bild: dpa

          Han-chinesische Augenzeugen behaupten, die Demonstranten hätten die Ordnungskräfte provoziert und mit Steinen beworfen. Wang Yaming sagte der Nachrichtenagentur Xinhua: „Die Demonstranten waren nicht friedlich. Sie waren mit Messern, Holzstöcken und Steinen bewaffnet.“ Wang wurde laut Xinhua ebenso wie Wang Kunding von mehreren Aufständischen attackiert: „Acht, neun Uiguren schnappten mich und fragten, zu welcher ethnischen Gruppe ich gehöre. Als ich sagte, ich sei Han-Chinese, wurde ich verprügelt“, so Wang zu Xinhua.

          Hunderte Festnahmen

          Das chinesische Staatsfernsehen CCTV sendete dramatische Bilder aus Urumtschi: Blutüberströmte Menschen irren durch die Straßen, viele sitzen weinend am Straßenrand. Autos werden umgestürzt und Busse in Brand gesteckt. Demonstranten werfen Steine in Schaufenster umliegender Geschäfte. Immer wieder sind auch geordnete Reihen von Demonstranten zu sehen, die auf Polizeikräfte in voller Schutzmontur zu marschieren.

          Hunderte Demonstranten wurden festgenommen, darunter auch zehn mutmaßliche Rädelsführer der Unruhen. Von offizieller Seite hieß es, 190 Busse, 260 Autos und mehr als 200 Geschäfte seien bei den Ausschreitungen in Brand gesetzt worden. Erst in der Nacht zum Montag kehrte wieder Ruhe ein. Polizei und Streitkräfte zeigen seit den Ausschreitungen massive Präsenz und patrouillieren durch die Straßen Urumtschis. Für den Abend wurde eine Ausgangssperre verhängt.

          „Schlimme Dinge widerfahren“

          Exil-Uiguren wie Asgar Can sagen, für die Uiguren habe sich die Lage zugespitzt. „Gestern Abend wurde das gesamte Stromnetz gekappt und wir befürchten, dass in der Dunkelheit unseren Landsleuten schlimme Dinge widerfahren.“ Nuri Bekri, Regionalpräsident der Region, sagte gegenüber Xinhua, man wolle „mit den stärksten Maßnahmen und Mitteln“ für Stabilität und Sicherheit in der Region sorgen.

          Die Internetverbindungen nach Xinjiang wurden gekappt, das Mobilfunknetz lahm gelegt und Urumtschi weiträumig abgeriegelt. Dirk Pleiter, China-Fachmann von Amnesty International Deutschland, befürchtet, dass alle Spuren verwischt werden: „Die Regierung will so eine unabhängige Untersuchung verhindern. Ganz wie es vor einem Jahr in Tibet der Fall war.“

          Nach Xinhua-Angaben haben die Behörden ohnehin bereits die Urheber der Unruhen ausgemacht. Neben den zehn festgenommenen Rädelsführern beschuldigen die Behörden in Amerika sitzende Exil-Uiguren wie Rebya Kadeer als Initiatoren der Ausschreitungen. (siehe: Die Stimme der Uiguren: Rebiya Kadeer - Die Himmelsstürmerin)

          Derweil weiten sich die Proteste auf andere Städte in der Provinz aus. WUC-Vizepräsident Can sagte dieser Zeitung, am Montag sei auch in der alten Karawanenstadt Kaschgar nahe der pakistanischen Grenze demonstriert worden. Dort sollen sich nach seinen Angaben 300 Uiguren vor der Id-Kah-Moschee eingefunden haben. Zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften sei es allerdings nicht gekommen.

          Seit Jahren herrschen große Spannungen zwischen der uigurischen Bevölkerungsgruppe und der Zentralregierung in Peking. Diese versucht die uigurische Bevölkerung mit dem „Krieg gegen den Terror“ in Verbindung zu bringen. Ihnen wird Separatismus und Terrorismus vorgeworfen.

          Ban: Grundrechte respektieren

          UN-Generalsekretär Ban Ki-moon forderte eine friedliche Lösung des ethnisch geprägten Konflikts. Versammlungs- und Meinungsfreiheit seien Grundrechte, die respektiert werden müssten. Der italienische Präsident Giorgio Napolitano wandte sich direkt an den chinesischen Staats- und Parteichef Hu Jintao, der zu einem Besuch in Rom eintraf. Beide seien dabei übereingekommen, dass der wirtschaftliche und soziale Fortschritt in China mit Blick auf die Menschenrechte neue Anforderungen an die Führung in Peking stelle, sagte Napolitano im Anschluss.

          Die amerikanische Regierung zeigte sich „tief besorgt“ über dieblutigen Unruhen in der chinesischen Uiguren-Provinz Xinjiang. Da die Umstände zunächst noch unklar seien, „wäre es verfrüht, weitere Kommentare oder Spekulationen abzugeben“, teilte der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, am Montag mit.

          Auch deutsche Politiker zeigten sich schockiert: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Walter Kolbow, rügte, die chinesischen Sicherheitskräfte hätten „jegliches Maß an Verhältnismäßigkeit missachtet“ und die Grenze des Zulässigen überschritten. (siehe: Kommentar: Peking, die Uiguren und böse Mächte und Uigurenproteste in China: Zwischen Kaschgar und Urumtschi)

          Ähnlich wie in Tibet

          Die Volksrepublik China ist ein Vielvölkerstaat, in dem es immer wieder zu Unruhen zwischen den ethnischen Minderheiten und der Mehrheit der Han-Chinesen kommt. Diese stellen 91,59 Prozent der chinesischen Bevölkerung. Die restlichen gut acht Prozent verteilen sich auf 55 offiziell anerkannte Minderheiten. Eine davon sind die Uiguren.

          Nach den Minderheiten der Zhuang, Mandschu, Hui und Miao bilden sie die fünftgrößte Minderheitengruppe in China. Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist die Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas, wo mehr als acht Millionen von ihnen leben. Die Region ist für die chinesischen Machthaber von großer Bedeutung, weil hier Erdöl und Erdgas, Gold, Kohle und Uran vermutet werden. Geostrategisch wichtig ist das Gebiet wegen seiner gemeinsamen Grenzen mit Pakistan und Afghanistan.

          1955 wurde Xinjiang der Status einer „Autonomen Region“ innerhalb der Volkrepublik China zugestanden. Allerdings ist den Machthabern in Peking vor allem die Religion der Uiguren ein Dorn im Auge. Die Mehrzahl ist muslimischen Glaubens. Durch zahlreiche Restriktionen und Gängelungen versucht die Regierung die Uiguren an der Ausübung ihrer Religion zu hindern. So ist es beispielsweise Personen unter 18 Jahren per Gesetz untersagt, eine Moschee zu besuchen.

          „Krieg gegen den Terror“?

          Die chinesische Regierung befürchtet, die Gebetshäuser könnten Brutstätten eines islamistischen Separatismus werden. In der Öffentlichkeit versucht die chinesische Regierung seit Jahren die Uiguren in Zusammenhang mit dem „Krieg gegen den Terror“ zu bringen. Sie wirft ihnen Separatismus und Terrorismus vor.

          Die Situation der Uiguren erinnert an die der tibetischen Minderheit. Beide Minderheiten pochen auf ihre in der Verfassung fixierten Rechte als Minderheiten in „Autonomen Regionen“. Und beide leiden unter staatlicher Repression. Die chinesischen Behörden werfen beiden Minderheiten Separatismus vor. Uiguren und Tibeter beschuldigen die Chinesen im Gegenzug der Diskriminierung und Überfremdung. Allerdings genießen die Tibeter eine ungleich größere mediale Aufmerksamkeit, was vor allem ihrem geistlichen Oberhaupt, dem Dalai Lama, zuzuschreiben ist. Als Stimme der Uiguren steht der „Weltkongress der Uiguren“ (WUC) an prominenter Stelle mit Rebiya Kadeer an der Spitze. (Siehe auch: Die Stimme der Uiguren: Rebiya Kadeer - Die Himmelsstürmerin)

          Auch hinsichtlich ihrer Gewaltbereitschaft sind Unterschiede zu erkennen. Während für die Tibeter der Dalai Lama bereits vor Jahren die Linie des friedlichen, gewaltfreien Widerstands proklamierte, tat sich die Uigurengemeinde mit dem Thema Gewalt lange schwer. Erst seit wenigen Jahren tritt der WUC dezidiert für einen gewaltlosen Protest ein. Innerhalb der uigurischen Bevölkerung gibt es dennoch starke Organisationen, die immer wieder gewaltsam gegen die von Han-Chinesen dominierten Regierungsbehörden vorgehen. Insgesamt vier Vereinigungen werden von der Pekinger Regierungszentrale als terroristisch eingestuft.

          Die chinesischen Behörden unterscheiden nicht zwischen gewalttätigen und friedlichen Organisationen. Sie gehen mit aller Härte gegen die Uiguren vor. Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International werfen den chinesischen Behörden vor, mit Folter, Massenverhaftungen und Todesurteilen gegen die uigurische Minderheit vorzugehen.

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