
Katastrophe von Genua : Ein italienischer Kollaps
- -Aktualisiert am
Nur noch ein nichts: Der Ort des Unglücks mitten in Genua. Bild: dpa
Die neue Koalition von Populisten ist nicht schuld am maroden Zustand von Italiens Infrastruktur. Dass sie den Brückeneinsturz aber ausgerechnet mit der EU in Zusammenhang bringt, ist ziemlich zynisch.
Sie sollten der Stolz der Nation sein und das sichtbare Zeichen ihres Modernisierungswillens: die Autostrade, die Autobahnen Italiens. Sie verbinden die Industrie- und Agrarzentren im Norden des Landes untereinander und diese mit den Märkten jenseits der Alpen. Sie helfen den Graben zuzuschütten, der seit Menschengedenken den rückständigen Mezzogiorno und die Inseln im Mittelmeer vom entwickelten Norden trennt. Für die Sommerfrischler sind sie Zubringer zu den Stränden, an denen die Italiener den August verbringen.
Die erste Autobahn Europas wurde 1924 in Italien eröffnet, sie führte von Mailand nach Varese. Mussolini und die Faschisten waren begeisterte Förderer des Autobahnbaus, sie sahen sie als Ausweis der Ingenieurskunst und des Industriegeistes der modernen Söhne des antiken Roms. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte das Wirtschaftswunder auch dem Bau der Autostrade neuen Schwung. Heute verfügt Italien über ein Autobahnnetz von rund 6800 Kilometern Länge.
Das Dreifache der einst erwarteten Höchstbelastung
Eine Autostrada ist seit je mehr als eine mehrspurige Verkehrsverbindung. An jeder Raststätte werden Köstlichkeiten der Umgebung feilgeboten, Schilder informieren über die Sehenswürdigkeiten der Gegend und belehren den Reisenden: Sei in un Paese meraviglioso (Du bist in einem wundervollen Land). Weil die Autobahnen aber seit je von privaten Betreibergesellschaften finanziert und gebaut wurden, für deren Kredite der Staat die Bürgschaften übernahm, waren sie immer auch Nährboden für Korruption, Schlendrian, bürokratischen Wildwuchs und Kompetenzgerangel. Aber irgendwann – und viel teurer als geplant – wurden der Bauabschnitt, der Tunnel, das Viadukt dann doch fertig.
Fachleute werden wohl herausfinden, weshalb die 1967 fertiggestellte Autobahnbrücke in Genua jetzt eingestürzt ist. Als sie vor mehr als fünf Jahrzehnten eröffnet wurde, galt ihr Planer und Erbauer Riccardo Morandi als Visionär des Brückenbaus, der seine eleganten Konstruktionen aus Spannbeton bis nach Lateinamerika und Afrika exportierte.
Seither ist das Verkehrsaufkommen auf der Morandi-Brücke auf das Dreifache der einst erwarteten Höchstbelastung gestiegen. Ein Stützkorsett nach dem anderen wurde dem ächzenden Bauwerk verpasst. Derweil kamen nicht nur der traditionsreichen Hafenstadt Genua und der Region Ligurien, sondern der gesamten Nation Pioniergeist und Modernisierungswille abhanden. Hier zog eine Umweltinitiative gegen ein verkehrspolitisches Großprojekt zu Felde, dort wurde unter dem Sparzwang aus jener Runderneuerung bloße Flickschusterei. Bürgervereinigungen prangerten zu Recht Verschwendung und Korruption bei den Politikern an. Doch dann erwiesen sich die neugewählten Politiker als ebenso korrupt und verschwendungssüchtig wie ihre abgewählten Vorgänger.
Der Aufstieg der Populisten von der linken Fünf-Sterne-Bewegung bis zur rechtsnationalistischen Lega in den vergangenen zehn Jahren ist auch eine Reaktion auf den Stillstand im Land. Außer dem Schuldenberg und dem Defizit sowie dem Überdruss von immer mehr Italienern an ihrer politischen Elite wuchs kaum etwas in Italien. Die Wirtschaft und das Zukunftsvertrauen gediehen jedenfalls nicht. Dass die Katastrophe von Genua sogleich zum Emblem für einen gesellschaftlichen Kollaps wurde, kann kaum überraschen.
Die Koalition linker und rechter Populisten, die seit zweieinhalb Monaten regiert, ist für den maroden Zustand der italienischen Infrastruktur nicht verantwortlich. Sie hat ihn von Regierungen linker und rechter Volksparteien geerbt. An mehreren Mitte-rechts-Koalitionen der vergangenen Jahre war freilich die Lega beteiligt, so dass sie sich nicht aus der Mitverantwortung stehlen kann. Die linken Fünf Sterne müssen sich ihrerseits fragen lassen, ob sie mit ihrer Fundamentalopposition gegen viele Großprojekte in der Infrastruktur nicht auch zum parteiübergreifenden Lager des Stillstands gehört haben.
Reflexartig hat Innenminister Matteo Salvini (Lega) verkündet, die Regierung in Rom werde sich nun erst recht nicht an Haushaltsvorgaben aus Brüssel halten. Man werde sich nicht durch äußere Zwänge davon abhalten lassen, für sichere Straßen und Schulen zu sorgen, sondern die überfälligen Investitionen vornehmen, sagte Salvini. Es ist zynisch, die EU jetzt auch noch mit dem Brückenkollaps in Zusammenhang zu bringen. Schließlich hat Italiens Infrastruktur seit Jahrzehnten von Strukturhilfen der EU profitiert: Dieses Problem hat seine Wurzel in Rom, nicht in Brüssel.
Ob das Geschehen in Genua zu einer von allen politischen Kräften getragenen Infrastrukturoffensive und zur Erneuerung des nationalen Selbstbewusstseins als einer modernen Industrienation führen wird, kann man bezweifeln. Es waren noch nicht alle Opfer geborgen, da setzte das Parteiengezänk schon wieder ein. Passende Worte fand Präsident Sergio Mattarella. Er nannte das Unglück „erschreckend und absurd“ und fügte hinzu: „Die Italiener haben das Recht auf eine moderne und effiziente Infrastruktur, die sie sicher durch ihren Alltag bringt.“ Sachlicher und einfacher kann man den Regierungsauftrag nach der Tragödie von Genua nicht formulieren.