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Aufruf führender Politiker : Mit multilateraler Kooperation die Krisen überwinden

  • -Aktualisiert am

Viele Schülerinnen und Schüler wie hier in Ghana haben noch kein Internet. Bild: Frank Röth

Die weltweite sehr schwere Krise der Pandemie ist auch eine Gelegenheit, durch Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen. Eine Ordnung, die auf Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit beruht. Ein Gastbeitrag für die F.A.Z. und weitere europäische Zeitungen.

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          Im September 2000 unterzeichneten 189 Staaten die Millenniumserklärung. Sie schufen so die Grundsätze der internationalen Zusammenarbeit für ein neues Zeitalter, in dem wir Fortschritte bei der Verwirklichung gemeinsamer Ziele erreichen wollen. Angesichts des Endes des Kalten Krieges waren wir zuversichtlich, eine multilaterale Ordnung aufbauen zu können, die uns dabei hilft, die großen Herausforderungen der Zeit zu bewältigen: Hunger und extreme Armut, Umweltzerstörung, Krankheiten, wirtschaftliche Erschütterungen und Konfliktprävention. Im September 2015 verschrieben sich alle Staaten mit der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung erneut einem ehrgeizigen Plan zur gemeinsamen Bewältigung globaler Herausforderungen.

          Unsere Welt hat sich stark unterschiedlich entwickelt. Einerseits wuchs weltweit der Wohlstand, andererseits blieben Ungleichheiten bestehen oder nahmen weiter zu. Die Demokratie hat an Boden gewonnen, gleichzeitig aber lebten Nationalismus und Protektionismus wieder auf. In den vergangenen Jahrzehnten erschütterten zwei große Krisen unsere Gesellschaften und schwächten unseren gemeinsamen politischen Rahmen. Unsere Fähigkeit, Erschütterungen zu überwinden, uns mit ihren grundlegenden Ursachen zu befassen und künftigen Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen, wurde dadurch in Zweifel gezogen. Diese Erfahrungen haben uns auch daran erinnert, wie sehr wir voneinander abhängig sind.

          Pandemie erfordert starke internationale Antwort

          Sehr schwere Krisen erfordern sehr ehrgeizige Entscheidungen. Wir glauben, dass diese pandemische Krise eine Gelegenheit sein kann, durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen – eine Ordnung, die auf Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit beruht. In diesem Geiste sind wir fest entschlossen, im Rahmen der Vereinten Nationen, regionaler Organisationen, internationaler Foren wie der G7 und der G20 und Ad-hoc-Koalitionen zusammenzuarbeiten, um uns den heutigen und künftigen globalen Herausforderungen zuzuwenden.

          Die erste Notlage besteht im Gesundheitsbereich. Die Covid-19-Krise ist die seit Generationen größte Bewährungsprobe für die weltweite Solidarität. Sie erinnert uns an etwas Offensichtliches: Im Angesicht einer Pandemie ist unser eigener Gesundheitsschutz nur so stark wie das schwächste Glied in der globalen Kette. Ist auch nur ein Ort in der Welt von Covid-19 betroffen, sind Menschen und Volkswirtschaften allerorten gefährdet.

          Die Pandemie erfordert eine starke und koordinierte internationale Antwort mit einem beschleunigten und breiteren Zugang zu Tests, Behandlungen und Impfstoffen. Wir betrachten eine breite Immunisierung als globales öffentliches Gut, das für alle verfügbar und erschwinglich sein muss. In diesem Zusammenhang unterstützen wir uneingeschränkt die einzigartige weltweite Plattform ACT-Accelerator, die im April von der WHO und den G-20-Partnern auf den Weg gebracht wurde. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe bedarf sie dringend breiterer politischer und finanzieller Unterstützung.

          Des Weiteren fördern wir den freien Fluss von Daten zwischen Partnern und die freiwillige Lizenzierung geistigen Eigentums. Langfristig brauchen wir zudem eine unabhängige und umfassende Evaluierung unserer Krisenreaktion, damit wir aus dieser Pandemie die notwendigen Lehren ziehen und uns besser auf die nächste vorbereiten können. Die Weltgesundheitsorganisation spielt in diesem Prozess eine zentrale Rolle.

          Fortschritt bei Bekämpfung der Armut gefährdet

          Auch unsere Umwelt befindet sich in einer Notlage. Vor der UN-Klimakonferenz in Glasgow (COP 26) müssen wir unsere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels verstärken und unsere Volkswirtschaften nachhaltiger gestalten. Die Staaten, die zusammen für mehr als 65 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich sind, werden höchstwahrscheinlich bis Anfang 2021 ehrgeizige Verpflichtungen zur CO2-Neutralität eingehen. Alle Regierungen, Unternehmen, Städte und Finanzinstitutionen sollten jetzt der globalen Koalition zur Reduzierung der CO2-Emissionen auf Netto-Null, wie sie das Pariser Klimaabkommen vorsieht, beitreten – und konkrete Pläne und Maßnahmen entwickeln.

          Die Pandemie hat zur weltweit schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Die Erholung hin zu einer starken und stabilen Weltwirtschaft zählt zu den wichtigsten Prioritäten. Die aktuelle Krise droht sogar den Fortschritt, den wir in zwei Jahrzehnten bei der Bekämpfung der Armut und der Ungleichbehandlung der Geschlechter gemacht haben, zunichtezumachen. Ungleichheiten sind eine Bedrohung für die Demokratie, weil sie den sozialen Zusammenhalt untergraben.

          Globalisierung und internationale Zusammenarbeit haben zweifellos Milliarden von Menschen geholfen, der Armutsfalle zu entkommen. Doch fast die Hälfte der Weltbevölkerung kann immer noch kaum ihre Grundbedürfnisse decken. Und in vielen Ländern ist die Kluft zwischen Arm und Reich untragbar geworden; Frauen sind immer noch nicht gleichberechtigt, und viele Menschen müssen von den Vorteilen der Globalisierung überzeugt werden.

          Unterstützung für Entwicklungsländer verstärken

          Während wir unseren Volkswirtschaften helfen, die schwerste Rezession seit 1945 zu überwinden, bleibt unsere Kernpriorität die Gewährleistung eines regelbasierten freien Handels. Er ist der wichtige Motor eines integrativen und nachhaltigen Wachstums. Jetzt kommt es darauf an, die Welthandelsorganisation zu stärken und das Potential des internationalen Handels für unseren wirtschaftlichen Aufschwung voll zu nutzen. Der Schutz der Umwelt und der Gesundheit sowie sozialer Standards muss im Zentrum unserer wirtschaftlichen Modelle stehen und gleichzeitig die notwendige Innovation ermöglichen.

          Wir müssen sicherstellen, dass der globale Aufschwung jeden erreicht. Wir müssen jetzt unsere Unterstützung für Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika, verstärken. Dabei sind bestehende Partnerschaften wie die G-20-Initiative „Compact with Africa“ und ihre gemeinsamen Bemühungen mit dem Pariser Club im Rahmen der Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes zu nutzen und auszubauen. Es gilt diese Länder weiter bei der Reduzierung ihrer Schuldenlast zu unterstützen und eine nachhaltige Finanzierung für ihre Volkswirtschaften sicherzustellen. Dabei muss die gesamte Bandbreite der internationalen Finanzinstrumente genutzt werden, so etwa Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds.

          Das Aufkommen neuer Technologien ist ein großer Vorteil für den Fortschritt und die soziale Integration: Sie trugen zur Offenheit und Resilienz von Menschen und Gesellschaften, Volkswirtschaften und Staaten bei und erwiesen sich in der Pandemie zugleich als lebensrettend. Doch fast die Hälfte der Weltbevölkerung – und mehr als die Hälfte aller Frauen und Mädchen auf der Welt – ist weiterhin offline und kann diese Vorteile nicht nutzen.

          Internet wirksam regulieren

          Die beträchtliche Macht neuer Technologien kann zudem missbraucht werden, um die Rechte und Freiheiten von Bürgern einzuschränken, um Hass zu verbreiten oder um schwere Straftaten zu begehen. Wir müssen auf bestehenden Initiativen aufbauen und einschlägige Akteure in eine wirksame Regulierung des Internets einbeziehen, um eine sichere, freie und offene digitale Umgebung zu schaffen. Es muss sichergestellt werden, dass Datenströme in einem vertrauenswürdigen Umfeld fließen, und die Vorteile insbesondere den am meisten benachteiligten Menschen zugutekommen. Dazu gehören auch die Bewältigung der steuerlichen Herausforderungen einer digitalisierten Wirtschaft sowie der Kampf gegen schädlichen Steuerwettbewerb.

          Multilaterismus ist keine beliebige diplomatische Technik

          Schließlich führte die Gesundheitskrise auch zu Brüchen in den Bildungsbiographien von Millionen Kindern und Studierenden. Wir müssen uns an das Versprechen halten, allen Menschen Bildung zu ermöglichen, und dafür sorgen, dass die nächste Generation ein Verständnis für die grundlegenden Fertigkeiten und die Wissenschaft entwickelt. Dass sie ein Verständnis für andere Kulturen entwickelt, Vielfalt akzeptiert und die Gewissensfreiheit achtet. Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft und ihre Bildung ist von entscheidender Bedeutung.

          Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen ist der Multilateralismus nicht bloß eine x-beliebige diplomatische Technik. Er prägt die Art, wie internationale Beziehungen organisiert werden, und verkörpert eine sehr spezifische Art der Organisation internationaler Beziehungen. Diese beruht auf Zusammenarbeit, Rechtsstaatlichkeit, kollektivem Handeln und gemeinsamen Prinzipien. Statt Kulturen und Werte gegeneinander auszuspielen, müssen wir einen integrativeren Multilateralismus aufbauen. Dabei haben wir unsere Unterschiede genauso zu achten wie unsere gemeinsamen Werte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind.

          Die Welt wird nach Corona eine andere sein. Lassen Sie uns verschiedene Foren und Möglichkeiten wie das Pariser Friedensforum nutzen, um diese Herausforderungen mit einer klaren Zukunftsvision zu bewältigen. Wir laden Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Religion und anderen Bereichen ein, sich an diesem globalen Gedankenaustausch zu beteiligen.

          António Guterres ist Generalsekretär der Vereinten Nationen. Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Emmanuel Macron ist französischer Staatspräsident. Angela Merkel ist deutsche Bundeskanzlerin. Charles Michel ist Präsident des Europäischen Rates. Macky Sall ist Präsident Senegals.


          Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org

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