Selbstjustiz im Internet : China jagt das Menschenfleisch
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Internet-Hatz: Damit wollen viele Chinesen die „Volksschädlinge“ unter sich beseitigen Bild: F.A.S.
Es braucht nicht viel für eine Hatz im Internet: Ein Thema, das jeder kennt. Und ein Opfer, das von der Meute verfolgt wird. Manchmal bis in den Tod.
Es war warm genug für sommerliche Kleidung an jenem Nachmittag im Dezember 2013, an dem ein Mädchen mit langem, glattem, schwarzem Haar den Modeladen „Box Buddy“ in der südchinesischen Stadt Donghai betrat. Auf engen 15 Quadratmetern gibt es dort die lässigsten Klamotten des Viertels. Das Mädchen ging in die Umkleide, kam wieder heraus, zahlte sieben Yuan für einen Lippenstift und verließ den Laden, wie es ihn betreten hatte: in den Händen keine Tüten, nur einen Hund. Einen Spitz mit goldenem Fell.
Wie ist das, eine Stunde später auf sein Telefon zu blicken und zu begreifen: Das Leben, das man kannte, ist vorbei?
Minuten nachdem das Mädchen den Laden verlassen hatte, stellte die Besitzerin, eine Frau namens Cai Xiaoqing, einen Eintrag auf Chinas Twitter, den Kurznachrichtenkanal Weibo mit einer halben Milliarde Nutzer. Mehrere Standbilder der Überwachungskamera im Laden zeigen eine Person, unscharf, kaum zu erkennen. Unter den Bildern steht ein Aufruf: „Die da in Sommerklamotten ist eine Ladendiebin. Sie geht gern shoppen und hat oft einen Spitz mit goldenem Fell dabei. Helft mir und sucht ihr Menschenfleisch!“
„Renrou Sousuo“. Die Suche nach Menschenfleisch. Jeder Internetnutzer in China kennt den Begriff, der mit der Vernetzung des Reiches der Mitte entstand. Chinas Hornstoß zur Menschenjagd könnte ein Vorbote dessen sein, was dem Rest der digitalisierten Menschheit blüht. Um vier Uhr nachmittags des 2. Dezembers 2013 nahm Chinas Internetgemeinde Strafanzeige auf, leitete die Fahndung ein, erhob Anklage und saß zu Gericht. Um fünf Uhr, eine Stunde nach dem Fahndungsaufruf auf Weibo, sprach sie ihr Urteil über das Mädchen mit dem Spitz.
Der finale Spruch des Volksgerichtshofs
Zunächst breitete sich Sekunden nach dem Aufruf der Steckbrief der angeblichen Ladendiebin aus wie ein Virus. Ein Spitz mit goldenem Fell, mit dieser Beschreibung konnten die Jäger arbeiten. Eine Viertelstunde nach dem Aufruf hatte einer den Namen des Mädchens: Xu Anqi. „Ich wusste, sie ist es!“, jubelte @Xiaoqing. Ein paar Minuten später schrieb einer Xus Alter. „Ist sie auf Weibo?“, fragte @Qianchen Yanxia. Einer lud das Bild von Xus Personalausweis hoch. Einer schrieb ihre Handynummer, einer die Adresse, einer ihre Schule. Einer postete die Losung der Lehranstalt: „Der Exzellenz verpflichtet.“
Im Fall China gegen Xu Anqi, geboren im Bezirk Donghai, Stadt Lufeng, Provinz Guangdong, folgte der finale Spruch des digitalen Volksgerichtshofs. „Wegen der Diebin Xu Anqi hat die Hetu-Schule ihr Gesicht verloren“, schrieb ein Nutzer. Ein Mob von Hunderttausenden schrie via Weibo: „Hai Chong!“ Volksschädling!
Hai Chong ist ein Begriff aus Chinas Kulturrevolution. „Um allmächtig zu werden, müssen wir die Volksschädlinge loswerden!“ Gesichtsverlust war eine ernste Sache im kollektivistischen China. In der Provinz Donghai, der der Aufschwung viele neue Autos, aber wenig Aufklärung gebracht hat, besteht die Norm des kollektiven Ehrverlusts bis heute. Ein Einzelner kann die gesamte Gemeinschaft herunterziehen, so wie die von Chinas Internetdienst wegen Ladendiebstahls verurteilte Xu Anqi ihre Schule. Fünf Stunden nach ihrem Besuch des Modeladens stellte das Mädchen mit dem Spitz selbst ein Foto auf Weibo. Es zeigte zwei nackte Beine über dem Fluss Wangyang. „Zum ersten Mal habe ich keine Angst vor dem Wasser“, schrieb Xu Anqi. Der letzte Eintrag bestand aus einem einzigen Wort: „Auf die Plätze.“ Das Mädchen wurde nicht älter als 18 Jahre.