Machtvakuum in Libanon : Michel Aoun räumt Präsidentenpalast
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Abschied: Der libanesische Präsident Michel Aoun am Sonntag in Baabda Bild: via REUTERS
Einen Tag vor dem Ende seiner Amtszeit räumt der libanesische Präsident Aoun den Präsidentenpalast – und erklärt seine Regierung für „zurückgetreten“. Die sieht das ganz anders.
Der libanesische Präsident Michel Aoun hat am Sonntag den Präsidentenpalast in Baabde geräumt, einen Tag, bevor seine Amtszeit am Montag offiziell enden wird – und ohne einen designierten Nachfolger. Zuvor unterzeichnete er örtlichen Medienberichten zufolge ein Dekret, das die geschäftsführende Regierung von Ministerpräsident Nadschib Mikati für „zurückgetreten“ erklärt.
Damit droht im Libanon ein vollkommenes Vakuum in der Exekutive; normalerweise übernimmt die Regierung die Aufgaben des Präsidenten, wenn dort ein Vakuum im Amt entsteht.
Mikati erklärte unterdessen laut Bericht der Zeitung „Orient le Jour“, seine Regierung werde „weiterhin alle ihre verfassungsmäßigen Funktionen ausüben“, sofern das Parlament keine andere Meinung vertrete. Das Dekret Aouns zum Regierungsrücktritt habe keinen verfassungsrechtlichen Wert.
Anhänger Aouns versammelten sich am Sonntag vor dem Präsidentenpalast sowie vor der privaten Residenz des Politikers im Beiruter Vorort Rabieh, um Aoun zu verabschieden. Seine sechsjährige Amtszeit war geprägt von der schwersten Wirtschaftskrise des Landes, einem massiven Währungsverfall sowie den verheerenden Explosionen im Hafen von Beirut, bei der im August 2020 mehr als 220 Menschen starben und weite Teile der Stadt zerstört oder beschädigt wurden. Aoun forderte in seiner Abschiedsrede den Angaben zufolge umfassende Reformen, die Beseitigung der Korruption sowie eine Aufarbeitung der Explosionskatastrophe.
Der Libanon wird seit den Parlamentswahlen im vergangenen Frühjahr von einer geschäftsführenden Regierung unter Leitung des designierten Ministerpräsidenten Mikati geführt, dem bisher keine Regierungsbildung gelang. Ebenfalls gescheitert sind die bisher vier Versuche zur Wahl eines neuen Präsidenten. Nach dem festgelegten Religionsproporz muss der libanesische Staatspräsident maronitischer Christ sein, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit.
Das Oberhaupt der größten Christengruppe im Libanon, der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai, machte die schwierige Situation im Libanon in seiner Sonntagspredigt an seinem Amtssitz in Bkerke zum Thema. Er appellierte laut Manuskript an die Abgeordneten, das präsidiale Vakuum durch eine schnellstmögliche Wahl eines Nachfolgers für Aoun zu beenden. Es sei nicht die Zeit für einen Dialog, sondern die Zeit für die Wahl eines neuen Präsidenten, die nicht durch die vorherige Einigung auf einen Namen erfolge, „sondern durch aufeinanderfolgende Wahlgänge mit Beratung und ständiger Wahrung der Beschlussfähigkeit“, so Rai.