Antisemitismus in Europa : Kann Deutschland seine Juden schützen?
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„Es schmerzt mich, aber ich muss zugeben, dass Orbán in diesem Punkt Recht hatte“, meinte Konrád gegenüber der „New York Times“ mit Blick auf den Ministerpräsidenten. Konrád nahm nichts von seiner früheren Kritik an Orbán zurück („er ist kein guter Demokrat, und ich glaube auch nicht, dass er ein guter Mensch ist“) – und ebenso wenig an seiner Besorgnis über die Fidesz, die Ungarn fast in einen Einparteienstaat verwandelt habe. Aber obwohl er dem Ministerpräsidenten vorwarf, „die Demokratie zu entleeren“, bedeute das nicht notwendiger Weise auch, „dass die Schengen-Grenze nicht besser gegen diesen Tsunami geschützt werden muss“.
Die europäischen Regierungen mögen heute einmütig entschlossen sein, eine Wiederholung der Krise von 2015 und 2016 zu verhindern, aber das Problem der massenhaften Einwanderung verschwindet nicht einfach. Die Nähe Europas zu Afrika wie auch zum Nahen und Mittleren Osten bedeutet, dass Klimawandel, wirtschaftliche Stagnation und Krieg auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten für einen Migrationsdruck sorgen werden. Den Kontinent vollständig abzuschotten wäre weder sinnvoll noch human. Doch es wäre auch nicht sinnvoll oder human, in unbegrenzter Zahl Menschen aufzunehmen, deren Kulturen und Wertsysteme sich so grundlegend von denen der einheimischen Bevölkerung unterscheiden – und von denen viele so entschieden an Überzeugungen festhalten, die mit den Vorstellungen Europas nach dem Holocaust unvereinbar sind.
Mehr Wertschätzung für die liberalen Werte
Ein Land wie Deutschland wird sich stärker bemühen müssen, bei den Muslimen, die dort leben möchten, eine größere Wertschätzung für seine liberalen und demokratischen Werte zu wecken. Zu diesen Werten gehört auch die Anerkennung dessen, was es heißt, ein Bürger des Landes zu sein, das die Schuld am Holocaust trägt. Deutsche Politiker beginnen diese Herausforderung anzunehmen. Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD), selbst Tochter palästinensischer Flüchtlinge, hat angeregt, alle Neuankömmlinge sollten als Teil ihrer Integrationserfahrung zu einem Besuch in einem Konzentrationslager verpflichtet werden, und ein Abgeordneter aus Merkels CDU forderte: „Wer zu antisemitischem Hass aufruft und jüdisches Leben in Deutschland ablehnt, kann keinen Platz in unserem Land haben.“ Zu einer Zeit, da manche Juden wegen des Antisemitismus wieder aus Europa fliehen, erscheint dies als eine durchaus vernünftige Forderung an Menschen, die ein neues Leben in einem Land anfangen möchten, das es sich zur Pflicht gemacht hat, Menschen, die vor Verfolgung fliehen, willkommen zu heißen und zugleich das verbliebene jüdische Erbe zu schützen.
Auch wenn die meisten Schlagzeilen zum jüdischen Leben in Europa beängstigend sein mögen, gibt es doch Anzeichen dafür, dass ein Wandel möglich ist. Als das Video der antisemitischen Attacke in Berlin Furore machte, wurde bekannt, dass der Mann, der die Kippa trug, kein Jude, sondern ein arabischer Israeli war. Er mochte nicht glauben, dass es für gläubige Juden gefährlich sei, in Berlin mit einer Kippa auf die Straße zu gehen und unternahm deshalb dieses Experiment. Es überzeugte ihn davon, dass er sich geirrt hatte. Er sagte, er veröffentliche die Attacke, um „für die Polizei und das deutsche Volk und für die ganze Welt“ zu dokumentieren, „wie schrecklich es heutzutage ist, als Jude durch die Straßen Berlins zu gehen“.
James Kirchick ist Fellow der Brookings Institution in Washington. Der Text ist im Original zuerst in „The Atlantic“ erschienen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Bischoff.