Anschläge in Istanbul : Überleben durch Glück und Zufall
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Gebet für die Toten: Der türkische Präsident Erdogan (Mitte) gedenkt gemeinsam mit Premierminister Yildirim (4.v.l.) den Opfern. Bild: dpa
Nach den Anschlägen in Istanbul sind die Türken verunsichert. Erdogan gibt sich kämpferisch, und sogar die kurdische Opposition zeigt sich solidarisch.
Am Morgen nach den blutigen Bombenanschlägen im Istanbuler Stadtteil Besiktas verkündete der türkische Innenminister Süleyman Soylu eine vorläufige grausame Bilanz: Mindestens 38 Menschen sind infolge der Explosionen gestorben, 155 verletzt. Unter den Todesopfern sind 30 Polizisten, sieben Zivilisten und eine bislang unidentifizierte Person. Der Terror richtete sich allen Anzeichen nach gezielt gegen die Sondereinheiten der Polizei, die am Rande eines Spiels zwischen den Fußballclubs Besiktas und Bursaspor am Samstagabend im Einsatz waren.
Am späten Sonntagnachmittag dann bekannte sich eine radikale Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu dem Doppelanschlag. Auf ihrer Internetseite verkündete die TAK („Freiheitsfalken Kurdistans“), sie sei für beide Explosionen verantwortlich. Mit den Anschlägen habe die TAK nach eigenen Angaben auf die anhaltende Gefangenschaft des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die türkischen Militäroperationen vor allem im Südosten des Landes aufmerksam machen wollen. Solange diese anhielten, solle „niemand erwarten, ein geruhsames Leben in der Türkei führen zu können“, heißt es weiter in der offiziellen Stellungnahme der Terrorgruppe. Es ist der siebte Anschlag innerhalb von einem Jahr, für den sich die seit 2006 aktive TAK verantwortlich zeigt.
Von einem „geruhsamen Leben“ sind die Bürger der Türkei ohnehin schon lange weit entfernt. Unmittelbar nach den Explosionen im zentralen Istanbuler Stadtteil Besiktas machten sich Angst und Verunsicherung, aber auch Wut und Resignation bei den Menschen in Istanbul breit. „Wir leben inzwischen in einer Stadt, in der wir nur durch Glück und Zufall überleben. Orte, an denen wir uns sicher fühlten, verwandeln sich nach und nach in Gräber und Mahnmale“, schreibt ein junger Student in dem sozialen Netzwerk Facebook und drückt aus, was viele Türken überall im Land ganz ähnlich empfinden. Der verheerende Doppelanschlag in Istanbul reiht sich ein in eine nicht enden wollende Serie von Terroranschlägen in der Türkei, die das Land seit Juni 2015 erschüttern und von PKK-nahen Gruppen oder im Namen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verübt wurden. 24 Mal explodierten seitdem Bomben in der Türkei, einige davon in den lange als sicher geltenden Metropolen Istanbul und Ankara.
Das Sicherheitsgefühl im Land ist erschüttert
Nicht alle, aber viele dieser Anschläge forderten Menschenleben. Die Nacht des Putschversuches vom 15. Juli, in der fast 300 Menschen ums Leben kamen, ist dabei noch nicht einmal eingerechnet. Dass die türkische Regierung wahlweise versucht, das Volk zu beschwichtigen oder es gegen die „Feinde des Landes“ aufzuhetzen, hilft kaum, das erschütterte Sicherheitsgefühl im Lande wiederherzustellen.
Schon knapp zwei Stunden nach den Bombenanschlägen im zentralen Istanbuler Stadtteil Besiktas wirkt der Ort der Explosionen seltsam aufgeräumt und kontrolliert. Augenzeugen teilen im Internet Fotos von einem der Tatorte, der Straße vor dem Besiktas-Fußballstadion, in dessen Nähe kurz vorher eine Autobombe detoniert war. Man sieht Straßensperren und mehrere Polizisten, doch die Spuren der Zerstörung scheinen ansonsten restlos beseitigt.
Wesentlich länger als für die Aufräumaktion brauchten die Verantwortlichen indes dafür, die Opfer der Nacht zu beziffern. Unmittelbar nach den Anschlägen verhängte die türkische Regierung – wie nach vergleichbaren Ereignissen gewohnt – eine Nachrichtensperre. In den Stunden nach den Explosionen war in den meisten türkischen Medien daher nur von mehreren Verletzten die Rede, obwohl schon längst Fotos und Videos vom Tatort kursierten, auf denen die Wucht der Explosion vor dem Stadion zu erkennen war und die das Ausmaß der Zerstörung erahnen ließen. Mehr als vier Stunden dauerte es, bis die Regierung erste Zahlen zu den Todesopfern veröffentlichte.
Besiktas ist Istanbuls Ausgehviertel
Knapp anderthalb Stunden nach Abpfiff war vor dem Fußballstadion eine Autobombe in unmittelbarer Nähe eines Polizeibusses explodiert, fast gleichzeitig hatte sich im nahe gelegenen Macka-Park ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Ort und Datum des Anschlags waren offenbar bewusst gewählt. Besiktas ist eines der beliebtesten Ausgehviertel der Stadt und an allen Wochenenden hochfrequentiert, insbesondere aber an Spieltagen des Erstligisten Besiktas. Das Spiel gegen Bursaspor galt zudem als Hochrisikospiel, bei dem Ausschreitungen zwischen Fangruppen befürchtet wurden. Deshalb waren am Samstagabend besonders viele Polizisten rund um das Fußballstadion im Einsatz. Der nahe gelegene Macka-Park ist eine der grünen Oasen der Stadt und tagsüber voll mit Familien und Kindern.
Der türkische Vizeministerpräsident Numan Kurtulmus, der kurz nach dem Doppelanschlag nach Istanbul gereist war, wies lange vor dem offiziellen Bekennerschreiben der PKK-Splittergruppe TAK in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN Türk darauf hin, dass die Verwendung eines Fahrzeugs typisch für die PKK sei. Insgesamt seien 300 bis 400 Kilogramm Sprengstoff bei der Autobombe verwendet worden, sagte Kurtulmus und beschrieb die Zerstörung am Tatort folgendermaßen: „Wo das Auto in die Luft gesprengt wurde, ist ein Graben entstanden, von dem Auto ist nichts mehr übrig.“ Auch der gezielte Angriff auf Polizeikräfte habe auf die PKK hingedeutet. Immer wieder auch in den letzten Monaten richteten sich die Anschläge der kurdischen Terrororganisation gegen türkische Soldaten und Polizisten. Keine Zivilisten anzugreifen gehört zum Credo der PKK – auch wenn immer wieder normale Bürger bei ihren Anschlägen ums Leben kommen.
Erdogan: „Attentäter werden einen hohen Preis bezahlen“
In einer offiziellen Stellungnahme des türkischen Präsidenten, die noch in der Nacht der Anschläge veröffentlicht wurde, vermied Erdogan es noch, sich auf eine verantwortliche Gruppe festzulegen. Egal, ob es sich um PKK, IS oder FETÖ – die angebliche Terrororganisation des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich macht – handele, die Türkei werde sich dem Terror nicht beugen. Am Sonntag bekräftigte der Staatspräsident diese Entschlossenheit vor Journalisten in Istanbul: „Meine Nation und mein Volk können sich sicher sein: Wir werden die Geißel des Terrorismus bis zum Ende bekämpfen“, sagte Erdogan. Die Attentäter würden „einen hohen Preis zahlen“. Erdogans Kritiker weisen indes auch nach den jüngsten Anschlägen darauf hin, dass der Präsident und die Regierungspartei AKP die Unruhe und Instabilität im Land mit geschürt hätten und Erdogan selbst davon am allermeisten profitiere.
Der verheerende Anschlag in Besiktas hatte sich am Abend desselben Tages ereignet, an dem die türkische Regierung einen Verfassungsentwurf für ein Präsidialsystem vorgelegt hatte, das Staatschef Erdogan erlauben würde, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Einem Bericht von CNN Türk zufolge unterbreitete die regierende AKP den Entwurf dem Parlamentssprecher in Ankara nach einem Treffen mit dem Chef der Oppositionspartei MHP am Samstag. Die AKP braucht die Unterstützung der MHP-Abgeordneten im Parlament, damit das Dokument den Bürgern in einem Referendum vorgelegt werden kann. Das Parlamentsvotum wird im neuen Jahr erwartet. Geht es durch, steht der Alleinherrschaft von Präsident Erdogan auch offiziell nichts mehr im Weg. Um den Präsidenten zu überstimmen, wäre eine qualifizierte Mehrheit notwendig. Die beiden anderen Oppositionsparteien im Parlament – die Mitte-links-Partei CHP und die prokurdische HDP – haben wiederholt vor einer „Diktatur“ gewarnt, da das Parlament von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen würde. AKP-Funktionäre wiederum betonten in der Vergangenheit immer wieder, dass ein präsidiales System dem Land „Sicherheit und Stabilität“ bringen werde.
Nach den Terroranschlägen von Samstagnacht waren von den Oppositionsparteien jedoch keine Schuldzuweisungen zu hören. Die CHP organisierte einen Protestmarsch in Besiktas, und die prokurdische HDP, die immer wieder von der Regierung beschuldigt wird, sich nicht ausreichend vom Terror der PKK zu distanzieren, verurteilte die Anschläge uneingeschränkt.