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Amoklauf in Kertsch : Auf die Bestürzung folgen Giftpfeile

  • -Aktualisiert am

Eine Moskauerin zündet eine Kerze für die Opfer des Massakers in Kertsch an. Bild: dpa

Das Schulmassaker auf der Krim sorgt in Russland und der Ukraine für Betroffenheit. Politikern beider Länder liefert es dagegen neue Munition für gegenseitige Beschuldigungen.

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          Der Amoklauf an einer Berufsschule auf der Halbinsel Krim hat sowohl in der Ukraine als auch in Russland für große Betroffenheit gesorgt. In beiden Ländern äußerten Millionen Menschen ihre Trauer über die Tat eines 18 Jahre alten Schülers, der am Mittwoch mindestens einen Sprengsatz gezündet und mit einem Maschinengewehr um sich geschossen hat. In den sozialen Netzwerken veröffentlichten sie Beileidsbekundungen für die Familien der mittlerweile 21 Todesopfer und Genesungswünsche für die etwa 50 Verletzten.

          Teils ranghohe Politiker beider Länder zögerten dagegen nicht, die Tragödie für politische Zwecke zu nutzen. Den ersten Schritt machte am Mittwochnachmittag wenige Stunden nach der Tat Wladimir Konstantinow, der Vorsitzende des „Staatsrates der Republik Krim“. Als viele noch von einem möglichen Terroranschlag und nicht von einem Amoklauf ausgingen, machte der Politiker der von Russland annektierten Halbinsel die Ukraine für das Massaker verantwortlich: „Wir alle wissen, dass alles Unheil auf dem Boden der Krim prinzipiell von der ukrainischen Führung ausgeht. Sie haben nie ihren Hass gegen uns verborgen“, sagte er russischen Medien. Ohne die Ermittlungen vorwegnehmen zu wollen, sei er persönlich überzeugt, dass „der Wind von dort weht“. Einige Medien in Russland teilten diese Version eines von ukrainischen Saboteuren ausgehenden Angriffs auf die Sicherheit und Stabilität der Halbinsel, bis Ermittler am Nachmittag bekanntgaben, dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Schüler der Berufsschule handelte, der offenbar keine politischen Motive für die Tat gehabt habe.

          Ukrainische Politiker keilen gegen „Aggressor“

          Später teilte dann die ukrainische Seite aus. Dass so etwas passieren könne, sei nur der Tatsache geschuldet, dass die Krim vom Aggressor Russland besetzt sei. Unter ukrainischer Herrschaft wäre eine solche Tat nicht möglich gewesen. Boris Babin, 2017 vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko zum Vertreter des Präsidenten der Ukraine auf der Krim ernannt, äußerte sich entsprechend im ukrainischen Fernsehen: „Ich möchte unterstreichen, dass die volle Verantwortung für das, was auf der Krim geschehen ist, beim Aggressorstaat liegt.“ Der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin sprach in einer Nachricht auf Twitter nicht nur den Familien der Opfer sein aufrichtiges Beileid aus, sondern stellte auch die Frage: „Wäre der Albtraum von Kertsch möglich gewesen ohne die Atmosphäre, die in Russland herrscht und die es auf die friedliche Krim gebracht hat?“

          Der aus Russland stammende Journalist Arkadij Babtschenko, der vor wenigen Monaten seinen eigenen Mord vorgetäuscht hatte, um dem ukrainischen Geheimdienst bei der Enttarnung russischer Auftragskiller zu helfen, meldete sich ebenfalls zu Wort. Auf Facebook richtete er sich mit Belehrungen an die Bewohner der Krim. Er habe schon vor Jahren davor gewarnt, dass Attacken dieser Art unter russischer Herrschaft unvermeidlich seien. „Aber nein. Ihr wolltet es nicht hören.“ Stattdessen sei er als Verräter und Lump beschimpft worden. Terror, Gewalt, Polizeiimperium – „das ist eure Realität. Gewöhnt euch dran!“

          Für Putin ist die Globalisierung schuld

          Der russische Präsident Wladimir Putin befasste sich derweil am Donnerstag in Sotschi mit den Geschehnissen vom Vortag. In der Schwarzmeerstadt hielt er eine Rede beim sogenannten Waldai-Klub, einem Diskussionsforum, auf dem der Kreml alljährlich Hunderte Russland-Experten zusammenbringt. Als er auf den Amoklauf von Kertsch zu sprechen kam, präsentierte Putin einen bis dahin noch nicht genannten Schuldigen: die Globalisierung. „Alles begann mit den bekannten tragischen Ereignissen an Schulen in den Vereinigten Staaten“, sagte Putin. Heute spiele vor allem das Internet eine wichtige Rolle, weil es Jugendliche nicht mit sinnvollen Inhalten versorge, sondern mit falschen Vorbildern. „Junge Leute mit einer instabilen Psyche schaffen sich irgendwelche Pseudohelden“, sagte er. Das Festhalten an ihnen führe zu Tragödien wie nun auf der Krim.

          Was Putin nicht gefallen dürfte: Möglicherweise war er selbst ein Vorbild für den Amokläufer von Kertsch. Das legen ältere Einträge aus dem russischsprachigen sozialen Netzwerk „Vkontakte“ nahe, die den russischen Präsidenten und die prorussischen Separatisten in der Ostukraine glorifizieren. Die sogenannte „Internetarmee der Ukraine“, die von der Kiewer Regierung 2015 gegründet wurde, um Propaganda und Falschnachrichten über den Krieg im Osten zu kontern, schreibt sie dem Amokläufer zu: Der Account läuft unter seinem Namen, als Standort ist Kertsch angegeben. Allerdings stammen die letzten Einträge auf der Seite aus dem Jahr 2014. Freunde des Amokläufers berichteten russischen Medien, er habe sich in den vergangenen Jahren zunehmend zurückgezogen.

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