Alltag der Mormonen in Utah : Für alle Ewigkeit
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Jahrzehntelang in der Pubertät
Vor rund fünf Jahren überzeugte Burton die alten Herren an der Spitze der Kirche, die Welt mit einer Imagekampagne zu lehren, dass Mormonen keine Verrückten seien. „Unsere Kirche war Gegenstand vieler Debatten“, sagt Burton, „nahm aber selbst nicht daran teil.“ In den 170 Fernsehspots, die seine Agentur seither produziert hat, ist es mal ein Lehrer, mal eine Violinistin, ein Polizist, ein Harley-Davidson-Rocker, eine Vollzeitmutter oder ein Modedesigner, die von ihrem erfüllten Leben erzählen - und ganz am Schluss hinzufügen: „Und ich bin Mormone.“ So groß ist das Bedürfnis, Normalität zu zeigen, dass die Werber sogar einen geschiedenen Vater zu Wort kommen ließen.
Schwule Mormonen : Die Sünder der letzten Tage
Doch die Vorbehalte sind zählebig. Davon zeugt eine Stichwortliste auf der Tafel, die Brandon Burton abzuwischen versäumt hat, bevor er den Besucher hineinbat: „Tempel, Rasse, Frauen, unchristlich, Reichtum, Polygamie, Totentaufe, Homosexualität.“ Die Undurchschaubarkeit der Zeremonien im Tempel, die späte Zulassung schwarzer Männer zur Priesterschaft erst 1978, das auf Mutterschaft und Mildtätigkeit fokussierte Frauenbild, die Fortschreibung der Bibel, das imposante, aber unbezifferte Vermögen der Kirche, der verdruckste Umgang mit dem Erbe der Vielweiberei, die zwischenzeitlich betriebene „Taufe“ jüdischer Holocaust-Opfer oder der engagierte Kampf der Kirche gegen die Homosexuellenehe - all das wirft weiterhin Fragen auf.
Einer, der hartnäckig Antworten verlangt, nennt sich „eine Art Staatsfeind Nummer eins“ der Kirchenführung. Der Mann heißt John Dehlin und sagt, die Kirche habe jahrzehntelang in der Pubertät gesteckt. Aber jetzt, wo Romney die Blicke der Welt auf seine Religion lenke, stehe sie „einen Schritt vor dem Eintritt ins Erwachsenenalter“. Das klingt reichlich forsch aus dem Munde eines 42 Jahre alten Mannes, dessen Urururgroßvater einst zu Fuß mit dem Handwagen aus dem Mittleren Western nach Salt Lake City kam.
„Der schrecklichste Moment in meinem Leben“
Doch Dehlin wägt seine Worte, auch in seinem Blog. Mormonstories.org hat nichts mit den unbeschwerten Anekdoten von Elisa Scharton, Elizabeth Elder und den anderen „Mommy Bloggers“ gemein. Der ehemalige Microsoft-Berater Dehlin hat seinen Job in Seattle aufgegeben, um Zeit für seine zweite, seine selbstgegebene Mission zu haben: die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit ihren Widersprüchen zu konfrontieren. Von innen. „Ich habe 200.000 Dollar im Jahr verdient. Ich habe die Welt bereist. Ich habe den amerikanischen Traum gelebt. Ich habe gewiss keinen Grund gesucht, die Mormonen zu hassen. Ich bin und bleibe von ihrem Stamm. Aber ich konnte nicht weitermachen wie bisher.“
Seit Dehlin diese Entscheidung traf, hat er unzählige Menschen getroffen, die Geschichten zu erzählen haben wie Sarah Boynton. Die 36 Jahre alte Bürokauffrau aus Salt Lake City hat schon ein halbes Leben keine Kirche der Mormonen mehr betreten. Dabei schwärmt sie bis heute für deren „wunderschöne Lehren“: „Der Gedanke, dass Familien für alle Ewigkeit zusammenbleiben, ist einfach herrlich“, sagt sie und schaut ihren spielenden Kindern hinterher. Sarah Boynton war 16 Jahre alt, als sie zum ersten Mal Sex hatte. Er war 21, Mormone und gerade von seiner zweijährigen Mission heimgekehrt. Und er erschrak sich am Morgen danach fürchterlich darüber, wie schnell er mit diesem vorehelichen Geschlechtsverkehr vom Pfad der Tugend abgekommen war. Er bereute alles und offenbarte sich seinem Bischof.