Äthiopien im Ausnahmezustand : Misstrauensvotum gegen das Regime
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In Freiheit: Der Oppositionspolitiker Bekele Gerba wird nach seiner Haftentlassung am 13. Februar in Oromia begrüßt. Bild: Reuters
Die Freilassung politischer Gefangener hat Äthiopiens Ministerpräsidenten sein Amt gekostet. Steht dem ostafrikanischen Land eine neue Protestwelle bevor?
Es ist ein offener Bruch des von der Regierung in Addis Abeba verhängten Ausnahmezustands: Ein Proteststreik in Gondar, einer der größten Städte des Landes, hat das öffentliche Leben dort weitgehend lahmgelegt. Die Verhängung des Ausnahmezustands am vergangenen Freitag war einen Tag auf den überraschenden Rücktritt von Ministerpräsident Hailemariam Desalegn gefolgt. Der hatte in einer gefühlsbetonten Fernsehansprache erklärt, Reformen nicht im Wege stehen zu wollen. Die Worte des 52 Jahre alten Desalegn richteten sich aber eher an die eigene Partei, die alles dominierende „Revolutionäre demokratische Front des äthiopischen Volkes“ (EPRDF), als an die Bevölkerung des ostafrikanischen Landes. Desalegn hatte kurz nach dem Jahreswechsel überraschend einen Kurs der politischen Öffnung im autoritär regierten Äthiopien angekündigt und Tausende politische Häftlinge freigelassen. Diese wurden in der Provinz Oromia, in der auch Addis Abeba liegt, überschwänglich und so begeistert mit öffentlichen Kundgebungen begrüßt, dass das EPRDF-Regime dies als Misstrauensbekundung ansehen musste.
Der jetzt verhängte Ausnahmezustand, der zweite innerhalb nicht einmal eines Jahres, steht für eine Schaukelpolitik, die Zerrissenheit und Unsicherheit der Staatsspitze spiegelt. Die Völker der Oromo und Amharen, die etwa zwei Drittel der Äthiopier ausmachen, fühlen sich unterjocht von den Tigre, die für sechs Prozent der Bevölkerung stehen, aber beherrschende Spitzenpositionen in Staat, Armee und Sicherheitskräften einnehmen. Wegen dieser Dominanz kam es seit 2014 landesweit zu Demonstrationen, Streiks und gewalttätigen Protesten, die vom Militär brutal unterdrückt wurden. Sie hatten sich an der räumlichen Ausdehnung der Hauptstadt zu Lasten von Siedlungsland der Oromo entzündet. Rasch jedoch richtete sich der Unmut generell gegen eine Führung, die Äthiopien in den vergangenen 27 Jahren zwar zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Land mit hohen Wachstumsraten gemacht hat, die Gesellschaft aber eisern im Griff hält.
Äthiopien gilt als China Afrikas
Im Parlament gibt es keine Opposition, die Medien sind kontrolliert, und Internetdienste, die einen freien Meinungsaustausch ermöglichen, werden immer wieder abgeschaltet. Der dauernde Rückgriff auf die Notstandsgesetzgebung gibt der Regierung die Möglichkeit, bis in den Alltag hineinzuregieren, und ist praktisch zum festen Bestandteil der Politik geworden. Wegen solcher Zwangspraktiken wird Äthiopien auch China Afrikas genannt.
Der jetzt zurückgetretene Hailemariam Desalegn galt als Kompromisskandidat, als er 2012 an die Stelle des verstorbenen charismatischen ehemaligen Rebellenführers Meles Zenawi trat, dessen Politik Äthiopien auf den wirtschaftlichen Erfolgskurs gebracht hatte. Desalegns Wahl war Ausdruck der Schwäche der großen Volksgruppen, sich auf einen Kandidaten aus ihren eigenen Reihen zu einigen – er gehört der kleinen Ethnie der Wolayta aus dem Süden des Landes an und zog am wenigsten Widerstand auf sich. Er ist ein Mann des Apparats, ein Bürokrat, dessen Hauptleistung es war, das Wirtschaftswunder durch Verordnungen und praktische Politik erst möglich gemacht zu haben.
Äthiopien befindet sich in einer kritischen Situation. In dem Vielvölkerstaat mit etwa 120 ethnischen Gruppen ist der Wunsch nach regionaler Autonomie bis hin zur Unabhängigkeit traditionell verbreitet. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen um nutzbares Land. Unruhen, Proteste und Anschläge, die auch aus dem benachbarten Somalia gesteuert werden, sind eine ständige Bedrohung. Eine Million der 100 Millionen Äthiopier sind Flüchtlinge im eigenen Land. Der wirtschaftliche Aufschwung ist in freien Fall umgeschlagen. Die Warnungen, die die Vereinigten Staaten und Deutschland jetzt für Reisen außerhalb Addis Abebas aussprachen, kennzeichnen die Fragilität der Lage, die in ihrer Summe dem zurückgetretenen Ministerpräsidenten angelastet wird. Ohnehin war seine Ablösung im Laufe dieses Jahres erwartet worden.
Als möglicher Nachfolger gilt Lemma Megersa, Vorsitzender der Oromo-Partei in der EPRDF und Präsident der Oromo-Region. Er wird unabhängig von ethnischen Grenzen unterstützt und gilt als mitreißender Redner, der zu integrieren weiß. Allerdings ist Megersa nicht Abgeordneter des Bundesparlaments, was Voraussetzung einer Wahl ist.
Im Ausland wird der Vorgang aufmerksam verfolgt. Neben Nachbarländern wie Südsudan oder Somalia, die sich im Bürgerkrieg befinden, gilt Äthiopien als Stabilitätsanker – während Kenia, das diese Rolle bislang innehatte, von innenpolitischen Kämpfen geschwächt ist. Amerika, das größte Geberland, hat den Weg in einer Erklärung vorgegeben. Die Lösung könne nur in „mehr Freiheit, nicht in weniger“ liegen, heißt es.