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Abschied von Gorbatschow : „Er hat uns den Himmel geöffnet“

Menschen nehmen Abschied an Gorbatschows offenem Sarg in der Säulenhalle des Hauses der Gewerkschaften. Bild: dpa

Beim Abschied des letzten Sowjetführers versammeln sich in Moskau Leute, die sonst nicht zusammenkommen dürfen. Fragt man sie nach dem Grund für ihr Kommen, üben viele Kritik am Status quo.

          5 Min.

          In Moskau wirkt es am Samstag so, als hätte Michail Gorbatschow ein kleines Stück der Freiheit, die er den Leuten einst bescherte, im Tod für einige Momente wiedergebracht. Eine Menge hat sich versammelt, nicht auf Geheiß der Staatsmacht, sondern aus eigenem Antrieb, ohne Angst, von den Sicherheitskräften auseinandergetrieben zu werden. Das ist möglich, weil die Versammlung ausnahmsweise nicht illegal ist, sondern ein kollektives Anstehen vor Sicherheitskontrollen im Rahmen der Abschiedszeremonie für Gorbatschow. Fragt man die Leute, geben sie bereitwillig Auskunft darüber, wie sie den letzten Sowjetführer sehen, was er ihnen bedeutet. So oft müssen sie schweigen, jetzt können sie reden, unter blauem, klaren, sonnigen Himmel.

          Friedrich Schmidt
          Politischer Korrespondent für Russland und die GUS in Moskau.

          Der Verstorbene sollte, so war es entschieden worden, kein Staatsbegräbnis erhalten, die Beerdigung nur „Elemente“ davon beinhalten, wie es Präsident Wladimir Putins Sprecher ausdrückte. Dazu gehört die Aufbahrung des Leichnams im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften im Zentrum der russischen Hauptstadt, neben dem Sitz der Duma, des Unterhauses, und ganz nah am Kreml. In dem einstigen Adelspalais, erbaut Ende des 18. Jahrhunderts im klassizistischen Stil, strömten schon Massen an Stalins Leichnam vorbei; zuletzt konnte man hier im April von dem Krawallnationalisten Wladimir Schirinowskij Abschied nehmen.

          Dazu kam auch Putin, anders als jetzt zu Gorbatschow: Der Präsident war angeblich mit Arbeitsterminen ausgelastet, hatte am Donnerstag seine eigene, gut eine halbe Minute dauernde Abschiedszeremonie in dem Moskauer Krankenhaus gehabt, in dem Gorbatschow am Dienstag starb. Die Termine, die Putins Sprecher nannte, etwa ein „internationales Telefongespräch“ und die Vorbereitung auf ein Wirtschaftsforum, wirkten alltäglich; offenkundig kamen sie gelegen. Dass Putin den ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion für deren Zerfall verantwortlich macht, dass er sich selbst als Gegenentwurf zum angeblich schwachen, zögerlichen, von vielen gar als Verräter dargestellten Gorbatschow inszeniert, schlug sich auch in dürren Beileidsworten nieder.

          Michail Gorbatschows Porträt hängt während seiner Gedenkfeier im Haus der Gewerkschaften in Moskau. Bilderstrecke
          Trauerfeier in Moskau : Abschied von Michail Gorbatschow

          Entsprechend wenige Vertreter von Putins Politpersonal besuchen die Zeremonie im Haus der Gewerkschaften. Ranghöchste Ausnahme ist Dmitrij Medwedjew, der sich am Morgen am Sarg des Toten fotografieren lässt. Einst Präsident und Ministerpräsident, seit 2020 Putins Stellvertreter im Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrats, fällt Medwedjew seit Monaten mit besonders scharfen Kriegsparolen auf. Kurz nach seinem Besuch am Sarg schreibt Medwedjew auf seinem Telegram-Kanal, immerhin habe die Führung der Wendezeit „genug Verstand“ gehabt, um nicht zuzulassen, dass das Nuklearwaffenarsenal der Sowjetunion auf deren Nachfolgestaaten verteilt werde; dieses sei heute „die beste Garantie, das Große (sic) Russland zu bewahren“.

          Es wirkt, als halte es Medwedjew für ratsam, sich für den Besuch zu rechtfertigen. In Wirklichkeit hatten die Ukraine, Belarus und Kasachstan auf ihren Gebieten verbliebene sowjetische Nuklearwaffen gegen Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Russlands an Letzteres abgegeben; doch an die Budapester Memoranden von 1994 erinnert man in Moskau nicht gerne.

          An Ungarns Hauptstadt selbst erinnert immerhin ein Gast: Als einziger Regierungschef aus einem EU- und NATO-Land besucht der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die Abschiedszeremonie. Andere Länder, darunter Deutschland und die Vereinigten Staaten, werden durch ihre Botschafter vertreten.

          Die Staatsnachrichtenagenturen Ria und Tass schweigen zur Anzahl der Teilnehmer. Beobachter schätzen deren Zahl auf Tausende. Viele in der Menge tragen rote Rosen, Nelken, Chrysanthemen in den Händen. Lange warten sie vor Gittern und Metalldetektoren darauf, ins Haus der Gewerkschaften vorgelassen zu werden. Viele drängt es auf die Frage nach dem Grund für ihr Kommen regelrecht danach, ihre Meinung über den Verstorbenen, ihre Erinnerungen an Gorbatschow zu erzählen, und so vielfach auch Kritik am Status quo zu äußern, mal mehr, mal weniger behutsam.

          Ein 22 Jahre alter Philosophiestudent sagt, er wolle sich bei Gorbatschow für den Impuls bedanken, sich mit Geschichte zu befassen. In seiner Familie, die aus dem Gebiet Saratow stamme, sähen die Älteren Gorbatschow eher negativ, er dagegen wegen „Chancen“ für die Zivilgesellschaft positiv. „Ein großer Mann. Er hat uns erlaubt, frei zu sein, hat uns die Türen geöffnet“, sagt eine 61 Jahre alte Moskauerin. Dass es dann nicht gelungen sei, „aus dem Sumpf herauszukommen“, sei der „Fehler von uns allen“ gewesen, nicht Gorbatschows.

          Ein 60 Jahre alter Moskauer sagt, Gorbatschow habe sein eigenes, ehedem langweiliges und graues Leben besser gemacht, habe Reisen, Austausch, Diskussionen ermöglicht. Mit seiner zehn Jahre jüngeren Frau habe er sich gestern Abend über Gorbatschow gestritten: „Sie kennt das Leben nicht, dass vor Gorbatschow war.“ Viele jüngere idealisierten die Sowjetunion, verwechselten Angst vor Stärke mit echter Wertschätzung, sagt der Mann. „Er hat uns einen Schluck Freiheit gegeben“, sagt auch eine Frau Mitte 50. Gorbatschow habe sie stolz gemacht, im Unterschied zu heute, da sie „nicht mehr so stolz“ auf ihr Land sei. Gorbatschow sei „nicht immer ein Held“ gewesen, sagt sie mit Blick auf das gewaltsame Vorgehen gegen Balten und Georgier in der Spätphase der Sowjetunion. Aber „im Vergleich“ zu heute erinnere man sich noch mehr an das Gute.

          Eine junge Aktivistin sagt, es sei symbolisch, dass Gorbatschow „ausgerechnet in diesem Jahr gestorben ist“, mit Blick auf den Überfall auf die Ukraine. 23 Jahre sei sie alt „und ich weiß nicht, ob ich noch ein anderes Regime kennenlerne“. Ein Mann um die 70 sagt, er sei gekommen, um sein Gewissen zu beruhigen, da er Gorbatschow früher nicht unterstützt habe: „Er hat uns den Himmel geöffnet“, das begreife er jetzt. Andere heben als Gorbatschows Verdienst hervor, „dass er ohne Kampf von der Macht gelassen hat, das ist bei uns ganz selten“, wie ein älterer Moskauer sagt, oder, dass Gorbatschow „kein Menschenfresser“ gewesen sei und „keinen Krieg begonnen, sondern einen beendet hat“, den in Afghanistan, wie ein Jurastudent sagt.

          Neben ihm weist die Kleidung einen Mann in der Menge als Putin-Unterstützer aus: ein schwarzer Kapuzenpullover mit dem Kriegssymbol „Z“ darauf. Soweit man blickt, ist es das einzige „Z“. 71 Jahre sei er alt, sagt der Träger des Pullovers. Warum ist er hier? Gutes habe Gorbatschow geleistet, Schlechtes auch, allem voran „den Zerfall der Heimat“, aber: „Er war Präsident, daher muss ich kommen.“ Schon bei Breschnews Abschiedszeremonie sei er gewesen, erzählt der Mann; Gorbatschows Vorvorvorgänger starb 1982. Als der Mann von Gorbatschows „Verrat“ wegen der Sache mit dem Zerfall spricht, fällt der Jurastudent ein: Ob nicht Putin der Verräter sei? Der habe doch das Renteneintrittsalter erhöht, trotz eigener Versprechen, und was sei denn das Zurechtschustern der Verfassung zum Machterhalt und die Annexion der Krim? Er glaube Putin, sagt der „Z“-Träger, „und die Krim und der Donbass waren immer unser“.

          Allmählich geht es so zum Haus der Gewerkschaften. Drinnen geht es eine Treppe hinauf, vorbei an einer Ehrenwache aus zwei jungen Männern in prächtigen Uniformen mit Foto Gorbatschows und zwei Rosensträußen (es handelt sich bei dem Ensemble um ein weiteres „Element“ eines Staatsbegräbnisses), dann einen Flur entlang, hinein in den düsteren, mit einem Requiem beschallten Konzertsaal. Der Tote liegt im offenen Sarg in einem Lichtkegel. Die Menge wird von Sicherheitsleuten daran vorbeigeschleust und wer kurz verweilt, wird zur Eile angehalten. Im Saal sind Angehörige des Toten und Weggefährten wie Dmitrij Muratow, Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“, zudem Friedensnobelpreisträger wie der Verstorbene. Die von Gorbatschow geförderte Zeitung musste Ende März unter behördlichem Druck ihr Erscheinen einstellen.

          Draußen, in der klaren Sonne, warten neue Diskussionen, ein sehr alter und ein nicht ganz so alter Mann streiten über Für und Wider von Gorbatschows Wirken, Kameras richten sich auf sie, andere Leute stimmen ein, es ist unterhaltsam und ziemlich lebendig für einen Abschied. Vier Stunden dauert die Zeremonie im Haus der Gewerkschaften. Am Ende, als der Sarg in einem Auto fortgefahren wird zu Gorbatschows Beisetzung auf dem Moskauer Neujungfrauenfriedhof neben seiner 1999 gestorbenen Frau Raissa, klatscht die Menge. „Danke!“, rufen viele.

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