
Identifikationsfigur Merkel : Abschied von Amerika
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Angela Merkel am Donnerstag in Washington mit der amerikanischen Vizepräsidentin Kamala Harris Bild: AP
Die Bundeskanzlerin galt bei Amerikas Linksliberalen als Anti-Trump. Aber das Verhältnis zu Washington ist auch unter seinem Nachfolger nicht einfach.
Dass Angela Merkel in Amerika eine Zeitlang als „Anführerin der freien Welt“ verehrt wurde, liegt in erster Linie daran, dass sie nicht Donald Trump ist. Die weltoffene, auf Ausgleich angelegte Politik der Kanzlerin stand in so offenkundigem Widerspruch zum rüpelhaften und nationalistischen US-Präsidenten, dass sie die ideale Identifikationsfigur für Amerikas Linksliberale wurde, die ihr Land nach 2016 nicht wiedererkannten.
Da Merkel mit Trump nicht nur diplomatisch umging, sondern ihn auch mal abblitzen ließ, trug sie selbst zu diesem Bild bei. Aber sie ist auch ein Produkt der deutschen Konsensdemokratie, die sich stark von den weltanschaulichen Stellungskriegen unterscheidet, die Amerika heute prägen. Merkel und Trump, das war altes Europa gegen neues Amerika, um ein Schlagwort aus der Ära Bush abzuwandeln.
Deutschland ist keine Führungsmacht
In Wahrheit ist Deutschland natürlich keine globale Führungsmacht. In den 16 Jahren von Merkels Kanzlerschaft hat sich das Land schwergetan, seinen Beitrag zu militärischen Einsätzen zu leisten, die dem Erhalt der freien Welt dienen sollten. Das hat in Washington viele deprimiert, genauso wie die Debatte über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO und der Streit über Nord Stream 2.
In anderen Dossiers, die in den atlantischen Beziehungen wichtig sind, vom Klimaschutz bis zum Handel, tritt Deutschland meist im Konzert der EU auf. Auch hier haben viele Differenzen Trump überdauert.
Zu Merkels Realitätssinn gehört, dass sie nach Bidens Amtsantritt früh darauf hinwies, dass Europa gegenüber China andere Interessen habe als Amerika, sprich primär wirtschaftliche. Ob das wirklich so ist, wäre eine Diskussion wert.
Aber dass China heute überhaupt eine überragende Rolle spielt im Verhältnis zu Washington, zeigt, wie sich die Welt verändert hat. Als Merkel 2005 Kanzlerin wurde, galt der islamistische Terrorismus als größtes gemeinsames Problem. Jetzt verabschiedet sie sich von einem Amerika, das im scharfen Wettstreit mit Russland und China steht. Deutschland hat da seinen Platz noch nicht gefunden.