Abhörskandal in Großbritannien : Nur Nacktes ist Wahres
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Die „Sun“ ist für ihre Schlagzeilen und nackte Frauen bekannt Bild: Reuters
Fünf führende Redakteure der „Sun“ sind am Wochenende festgenommen worden - sie sollen Polizisten und Beamte bestochen haben. Der Ruf und die Zukunft des Boulevardblattes sind erschüttert, aber Rupert Murdoch hält weiter an ihr fest.
Das britische Boulevardblatt „Sun“ gerät immer tiefer in den Abhör- und Bestechungsskandal, der Teile der britischen Presse schon seit Monaten erfasst hat. Fünf führende Redakteure des Blattes, das in Großbritannien vor allem wegen der frechen Schlagzeilen und der „nackten Wahrheiten“ seiner Pinup-Girls auf Seite 3 berühmt ist, wurden am Wochenende wegen des Verdachts der Bestechung von Polizisten und Beamten festgenommen; unter ihnen sind der Bildredakteur, der Chef-Auslandskorrespondent und der Chefreporter des Blattes. Vor zwei Wochen waren schon einmal vier gegenwärtige und ehemalige Mitarbeiter der „Sun“ von den Ermittlern festgesetzt, und, wie jetzt auch, anschließend auf Kaution vorläufig entlassen worden.
Der Ruf und die Zukunft der „Sun“ sind durch die Ermittlungen derart erschüttert, dass der Unternehmer Rupert Murdoch, zu dessen Medienholding News International das Blatt gehört, sich zu einer Garantieerklärung an seine Beschäftigten veranlasst sah, dass die Zeitung trotz des Skandals weiter erscheinen werde. Bei dem Sonntags-Schwesterblatt „News of the World“ hatte Murdoch vor einem halben Jahr, auf dem ersten Höhepunkt der Krise, noch anders reagiert; damals waren die seit vier Jahren schwelenden Mutmaßungen, Murdochs Boulevardjournalisten hätten in Hunderten Fällen die Telefonspeicher von Mobiltelefonen bekannter Persönlichkeiten geknackt und abgehört, plötzlich durch die Veröffentlichung von Polizeiakten in weitem Umfang belegt worden. Selbst den Anrufspeicher - die Mailbox - eines Teenager-Mordopfers sollten die Reporter manipuliert haben, wodurch die Familie des Mädchens illusionäre Hoffnungen hegte, das Opfer sei noch am Leben.
Für diese Mutmaßung fanden sich in den Ermittlungen bisher zwar keine vollständigen Belege, der Abhörskandal wuchs sich aber auch ohne diesen Beweis zum größten britischen Presseskandal aus. Der finanzielle Schaden trifft vor allem den Medienkonzern Murdochs, der neben der Einstellung eines Boulevardtitels auch Hunderte von Schadensersatzansprüchen der Abhöropfer begleichen muss, und der überdies ehrgeizige Übernahmepläne im britischen Bezahlfernsehen (Sky TV) wegen der steigenden öffentlichen Antipathie aufgeben musste.
Den moralischen Schaden und Imageverlust aber teilt sich die gesamte britische Presse. Die Regierung setzte eine unabhängige Untersuchungskommission unter einem ranghohen Richter, Lord Justice Leveson, zur Erhellung der kriminellen Usancen in der britischen Presse ein; Leveson soll in seinem Bericht auch Vorschläge machen, wie die Aufsicht über die Medien in Großbritannien künftig geregelt werden soll.
Das öffentliche Interesse hat sich in den vergangenen Wochen auf die Aussagen vor Levesons Richterstuhl konzentriert: Schauspieler wie Hugh Grant berichteten von der Hatz der Boulevardjournalisten gegen sie, Chefredakteure wie der Redaktionsleiter der „Times“ (auch ein Murdoch-Blatt) entschuldigten sich öffentlich für Abhöraktionen von Journalisten ihrer Zeitung, PR-Berater wie der berühmteste britische Betreuer von Stars und Sternchen, Max Clifford (auch ein Abhör-Opfer), nannten die illegalen Lausch- und Bestechungspraktiken „ein Krebsgeschwür“ im Journalismus. Die frühere Vorsitzende der bisherigen Presseaufsichts-Kommission, Baroness Buscombe, sagte aus, sie habe das Vertrauen in alle Chefredakteure der britischen Presse verloren.
Noch immer gebiert der Skandal wöchentlich neue Schlagzeilen: Der Schauspieler Jude Law erlangte vom Murdoch-Konzern Schadensersatz in Höhe von umgerechnet rund 150.000 Euro, abgehörte Politiker wie der frühere stellvertretende Premierminister Prescott (rund 50.000 Euro) mussten sich mit kleineren Summen an Wiedergutmachung zufrieden geben. Die Ermittler der Polizei äußerten inzwischen, sie schätzten die Gesamtzahl der Abhörfälle auf „mehr als 800“.
Gelegentlich wendet sich die Leveson-Kommission auch Nebenschauplätzen zu, etwa der Frage, ob die erwähnten Fotomodelle auf der Seite 3 der „Sun“ mit dem allgemeinen Anstandsgebot zu vereinbaren seien. Es wird dem Chefredakteur des Boulevardblattes ein Vergnügen gewesen sein, zu dieser vergleichsweise harmlosen Frage eine Aussage zu machen. Dominic Mohan verteidigte jedenfalls die betreffenden täglichen Foto-Auftritte mit der Versicherung, sie fänden nun schon seit 42 Jahren an dieser Stelle statt. Die barbusigen Mädchen „repräsentieren Jugend und Frische“, beteuerte der Chef der „Sun“, „sie feiern die natürliche Schönheit - wir nehmen keine Mädchen, die sich künstlich verschönern ließen.“ Zumindest auf der dritten Seite können die Leser der „Sun“ also offenkundig auf die Echtheit aller Angaben und Proportionen vertrauen.