Demonstrationen in Belarus : Die Proteste bekommen ständig neue Helden
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Sicherheitskräfte gehen am Sonntag in Minsk gegen Demonstranten vor. Bild: EPA
Seit hundert Tagen wird gegen Machthaber Lukaschenka demonstriert – obwohl die Sicherheitskräfte immer brutaler vorgehen. Zu den Heldinnen der Bewegung gehört nun auch die „Miss Belarus 2008“.
Belarus zählte am Montag den hundertsten Tag der Proteste gegen die gefälschte Präsidentenwahl Anfang August und die Diktatur Alexandr Lukaschenkas. Obwohl die Staatsmacht immer mehr Gewalt einsetzt, gehen die Proteste weiter – und bleiben trotz allem friedlich. Kein Tag vergeht ohne Aktion, Hauptaktionstag bleibt der Sonntag. Dabei zählten Beobachter in der Hauptstadt Minsk laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax rund 10.000 Teilnehmer. Gemessen an der Größe früherer Märsche dort, die 100.000 teils weit übertrafen, ist das wenig. Gemessen an dem immer brutaleren Vorgehen der Sicherheitskräfte viel.

Politischer Korrespondent für Russland und die GUS in Moskau.
Für ganz Belarus zählten die Menschenrechtsaktivisten von „Wjasna“ (Frühling) am Sonntag 1279 Festnahmen bei Protesten, die allermeisten davon in Minsk. Schon am Montag fielen dort Urteile gegen Demonstranten vom Sonntag: zehn, zwölf, 15, 20, 23 Tage Arrest.
Die Aktionen standen unter dem Motto „Ich gehe raus“, um an Roman Bondarenko zu erinnern. Der 31 Jahre alte Minsker starb am vergangenen Donnerstag in einem Krankenhaus, nachdem ihn in Zivil gekleidete Schergen des Regimes verprügelt hatten. Letztere kamen in Bondarenkos Hof in einem Wohnviertel, der als „Platz des Wandels“ für die Protestbewegung Bedeutung hat, um dort weiß-rot-weiße Protestbändchen zu entfernen; „Ich gehe raus!“, war Bondarenkos letzter Eintrag in einem Chat. Am Sonntag skandierten Demonstranten die Parole, Autofahrer hupten solidarisch. Maskierte Einsatzkräfte in Schwarz oder Flecktarn trieben die Leute auseinander, verprügelten sie, nahmen sie fest.
Die Häscher blieben stundenlang vor Ort
Immer wieder stellten sich Demonstranten mit erhobenen Händen vor die Sicherheitskräfte und riefen „Schießt!“. Lukaschenkas Leute setzten unter anderem Lärm- und Blendgranaten sowie Schlagstöcke ein. Am „Platz des Wandels“ umzingelten sie einige hundert Menschen, die sich um ein improvisiertes Denkmal für Bondarenko versammelt hatten. Dann begann eine brutale „Säuberung“. Auch in einem benachbarten Supermarkt verprügelten Sicherheitskräfte Leute. Dutzende flohen vor ihnen in Privatwohnungen. Die Häscher durchkämmten Häuser, überprüften Pässe, blieben stundenlang vor Ort.
Eine Frau berichtete dem Newsportal Tut.by, sie habe mit vielen anderen 15 Stunden im Dunkeln ausgeharrt. Derweil räumten Angestellte der Stadtwerke Blumen, Kerzen und Fotos von Bondarenko weg. Andernorts zertraten Sicherheitskräfte Blumen für Alexandr Tarajkowskij. Er war im August getötet worden, als erstes von mittlerweile mindestens vier Todesopfern der Niederschlagungsbemühungen.
Vertreter der katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche kritisierten die Sicherheitskräfte. Deren Vorgehen zeige, dass die Staatsmacht immer mehr Angst vor dem Volk habe, schrieb der Generalvikar des katholischen Erzbistums Minsk-Mahiljou, Jurij Kassabuzkij, auf Facebook. Die Zerstörung des Denkmals für Bondarenko sei ein neuerlicher Versuch, „alles zu vernichten, was in unseren Leuten edel, rein und hell ist“.
27 Tage Arrest für „Miss Belarus 2008“
Der Pressesprecher der russisch-orthodoxen Kirche in Belarus, Sergej Lepin, kritisierte ebenfalls auf Facebook die „satanische Verschmähung von Altarlämpchen und Ikonen“, die für Bondarenko aufgestellt worden waren. Mit Blick auf die Auflösung der nicht vom Regime erlaubten Proteste fragte Lepin rhetorisch, ob denn das Verhalten der Sicherheitskräfte erlaubt sei und von wem.
Die Proteste bekommen ständig neue Helden. Nicht nur Märtyrer wie Bondarenko und Tarajkowskij. Olga Chischinkowa, die „Miss Belarus 2008“, wurde am vorvergangenen Sonntag in Minsk festgenommen und zu insgesamt 27 Tagen Arrest verurteilt. Sie hatte sich mehrmals gegen Gewalt ausgesprochen und daher im September eine Stelle an der „Nationalen Schönheitsschule“ verloren, einer staatlichen Model-Schmiede. Tut.by zeigte ein Unterstützungsplakat für Chischinkowa. Am Eingang zu deren Wohnung hingen ständig neue solche Plakate, sagte eine Nachbarin.
Es dürfte nicht lange dauern, bis neue „Volksdenkmäler“ für Roman Bondarenko erscheinen. In Minsk zogen am Montag ältere Belarussen zu ihrem schon traditionellen „Marsch der Pensionäre“ durch die Straßen. Vor dem Sitz des Geheimdiensts KGB skandierten sie „Faschisten“ und „Wir werden nicht vergessen, nicht verzeihen“.