AKP wird nicht verboten : Ein Sieg der Vernunft
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Es war richtig, die türkische Regierungspartei AKP nicht zu verbieten. Doch nur eine einzige Stimme fehlte zum Kippen der Mehrheit in die andere Richtung. Das zeigt, dass der Konflikt, der diesem Verbotsverfahren zugrunde lag, längst nicht gelöst ist.
Elf türkische Verfassungsrichter haben ihrem Land einen Dienst erwiesen. Es war in jeder Hinsicht richtig, die regierende islamisch-konservative „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, AKP, nicht zu verbieten. Wollte es sich nicht für politische Zwecke instrumentalisieren lassen und das Wohl des Landes zur Richtschnur nehmen, konnte das oberste Gericht gar nicht anders entscheiden. Dennoch votierten sechs der elf Richter für ein Verbot der Regierungspartei. Nur eine einzige Stimme fehlte zum Kippen der Mehrheit in die andere Richtung. Das zeigt: Die Türkei ist einem politischen Gau, dem größten anzunehmenden Unfall, um Haaresbreite entgangen. Und der Konflikt, der diesem Verbotsverfahren zugrunde lag, ist längst nicht gelöst.
Zehn Verfassungsrichter hielten es immerhin für angemessen, die AKP wegen angeblich „antilaizistischer“ Aktivitäten mit einer Halbierung der jährlichen Unterstützung aus Steuermitteln zu bestrafen. Nach den Worten des Gerichtspräsidenten Kiliç sollte das als „ernste Warnung“ verstanden werden. Doch die Warnung müsste sich eigentlich an alle Akteure richten, die den ideologischen Streit über die Rolle des Islams im politischen und gesellschaftlichen Leben der Türkei durch ständiges Schüren der Konfrontation so weit zugespitzt haben, dass schließlich die höchsten Richter über einen Ausweg befinden mussten. Niemand kann sich nach diesem Urteil als Sieger fühlen. Gesiegt hat, in letzter Minute, die Vernunft.
Vorbereitung für eine Neugründung der AKP waren offenbar getroffen
Man stelle sich nur vor, was geschehen wäre, wenn das Verfassungsgericht dem Antrag des Generalstaatsanwalts in allen Punkten gefolgt wäre: Die seit dem Herbst 2002 erfolgreich regierende und vor einem Jahr bei vorgezogenen Wahlen mit 46,6 Prozent der Stimmen im Amt betätigte AKP wäre zwangsaufgelöst und etwa etwa siebzig Politiker, Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Erdogan eingeschlossen, wären mit einem politischem Betätigungsverbot belegt worden. An die zwanzig Parteien sind in der Türkei seit der Abschaffung des Einparteienstaates schon verboten worden, auch die zwei Vorgängerorganisationen der AKP. Doch was dann?
Hätten Gül, Erdogan und die Parlamentsfraktion nach einem Verbotsbeschluss etwa weiterregieren sollen, bis die Machtverhältnisse in vorgezogenen Wahlen geklärt worden wären? Alle Vorbereitungen für eine Neugründung der AKP unter anderem Namen waren offenbar schon getroffen worden. Wenn diese Partei mit fast demselben Personal aber wieder die Wahl gewonnen hätte und Erdogan - als unabhängiger Abgeordneter - sogar wieder die Regierungsgeschäfte hätte führen können, was wäre dann mit einem Verbot der AKP gewonnen gewesen?
Urteil bietet Chance am Rande des Abgrunds umzukehren
Der Generalstaatsanwalt hielt der AKP vor, sie strebe im Verborgenen die Umwandlung der Türkei in einen islamischen Gottesstaat an. Das war juristisch gewagt und aufgrund der wenig überzeugenden Beweise, die er zusammengetragen hatte, zumindest nach westlichen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, auch unhaltbar. Politisch jedoch war dieser Verbotsantrag eine Wahnsinnstat. Sollten die Gegner der konservativ-islamischen Regierungspartei - die bisherige Führungselite der weitgehend areligiösen Kemalisten im Parlament, in der staatlichen Bürokratie und in den Streitkräften - tatsächlich beabsichtigt haben, die AKP mit juristischen Mitteln von der Macht zu entfernen, dann war das Manöver offenkundig nicht zu Ende gedacht: Denn es hätte entweder in einer politischen Farce, also der Rückkehr der gerade mit einem Verbot belegten Politiker in Ämter und Würden, oder mit einer nichtdemokratischen Machtübernahme anderer Kräfte, wie des Militärs, enden müssen.
Dass es so weit kam, ist vor allem der Republikanischen Volkspartei, CHP, der alten Staatspartei Mustafa Kemal Atatürks, anzulasten. Sie betreibt gegen die Regierung Erdogan eine kompromisslose Fundamentalopposition und bedient sich dabei ihrer Verbündeten im Staatsapparat. Alle türkischen Parteien sind hierarchisch geprägte Führerparteien, in denen der Chef über Richtung und Personal bestimmt. So kann der CHP-Vorsitzende Baykal, ein gerissener, aber glückloser Taktierer, seit Jahren eine Erneuerung der Partei verhindern. Die AKP gewinnt Wahlen auch, weil der Zustand der CHP so miserabel ist. Für Erdogan, der Charisma hat, stimmten selbst Bürger, die sich der religiösen Grundströmung in der AKP nicht unbedingt verbunden fühlten. Weil seine Regierung, wie keine vor ihr, Reformforderungen der EU ernst nahm, galt sie vielen als Motor eines längst überfälligen demokratischen Wandels. Durch unkluges Verhalten bei der Wahl des Staatspräsidenten und im Kopftuch-Streit hat die AKP dieses Vertrauen zum Teil verspielt.
Das Urteil des Verfassungsgerichts bietet Regierung, Opposition und den staatlichen Institutionen eine Chance, am Rande des Abgrunds umzukehren. Sie müssen nicht nur das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen, sondern auch untereinander zu zivilisierten Umgangsformen finden. Als vertrauensbildende Maßnahme böte sich die gemeinsame Ausarbeitung einer Verfassung an, die auch Parteiverbote erschwert. Damit wäre der türkischen Demokratie wirklich gedient.