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Fast wie der Bundestag : Was macht eigentlich ein Studierendenparlament?

  • -Aktualisiert am

Hier am Campus der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz hat sich die Arbeit des StuPa durch Corona verändert. Bild: dpa

Für viele Studierende hat sich das Leben an der Uni durch Corona verändert. Auch das Studierendenparlament leidet – vor allem, wenn schon vorher viele gar nicht wussten, was es überhaupt macht. Unterwegs mit Mainzer StuPa-Abgeordneten.

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          Wenn seine Kommilitonen überhaupt an etwas denken, sobald sie das Wort „Studierendenparlament“ hören, dann ist es wahrscheinlich das Sommerfest. Oder das Semesterticket. Julian Kappl denkt an Stress, an Wahlkampf-Tage und nächtelange Sitzungen. Dabei konnte sich Julian, als er vor fünf Jahren für sein Geographie-Studium nach Mainz zog, genauso wenig unter dem StuPa vorstellen. Dass die etwa 30.000 Studierenden der Uni Mainz einmal im Jahr 35 Vertreterinnen und Vertreter ins Studierendenparlament, also ins StuPa, wählen, wusste er damals nicht.

          Stattdessen wollte der 24-Jährige in die Grüne Jugend eintreten. Auf einer Messe für Erstsemester entdeckte er die Hochschulgruppe Campusgrün. „Eigentlich bin ich dort aus Versehen gelandet, zum Glück aber geblieben“, sagt Julian. Bereits nach wenigen Monaten ging er in den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). „Es gab tausend Abkürzungen, ich war total überfordert.“ So überfordert, dass er nach einem Monat wieder zurücktrat: „Das war die absolute Kata­strophe“, sagt Julian. Trotzdem wagte er sich zwei Monate später noch mal in die Hochschulpolitik und wurde ins StuPa gewählt. „Da lernte ich die HoPo dann richtig kennen.“

          Wir laufen über den Campus, vorbei an verblassten Plakaten und leeren Vorlesungssälen. Zehn Semester HoPo hat Julian mittlerweile auf dem Buckel: drei Legislaturen im StuPa und zwei Jahre als Referent für Ökologie im AStA. Gerade hat er seine Anmeldung für die Bachelorarbeit eingereicht. „Hat etwas länger gedauert“, sagt er grinsend. Wegen der Hochschulpolitik, also der HoPo, versteht sich.

          Corona beeinflusst auch die Hochschulpolitik

          Das StuPa hat viel Ähnlichkeit mit dem Bundestag: Es gibt eine Koalition und Opposition, Fraktionen, Redelisten. Den Unterschied machen eher die Themen, über die man spricht: Vegane Mensagerichte oder Pfandsysteme für Kaffeebecher stehen im Bundestag eher selten auf der Tagesordnung. „Man diskutiert mit Leuten, mit denen man sonst keine Überschneidung hat, und kann im Kleinen echt viel bewegen“, schwärmt Julian. Nur interessiere das außerhalb der Gremien leider oft niemanden.

          Julian Kappl vor der Naturwissenschaftlichen Fakultät in Mainz. Er hat sich zehn Semester lang im StuPa engagiert.
          Julian Kappl vor der Naturwissenschaftlichen Fakultät in Mainz. Er hat sich zehn Semester lang im StuPa engagiert. : Bild: Elisa Kautzky

          Seit Corona hat sich auch die Hochschulpolitik ins Digitale verlagert. Statt mit Glühwein und Keksen können die Hochschulgruppen nur noch mit Inhalten punkten. Das fehlende Campusleben hatte einen großen Einfluss auf die Wahlbeteiligung an den deutschen Hochschulen: An der Uni Siegen ist sie von 6,6 Prozent 2019 auf 1,6 Prozent 2020 gesunken, an der Uni Kaiserslautern war der Rückgang im Januar dieses Jahres im Vergleich zum Januar 2020 ähnlich stark; an der FU Berlin und der Uni Frankfurt wurden die StuPa-Wahlen während Corona gleich ganz ausgesetzt. In Mainz haben statt 10 Prozent im Vorjahr in diesem Jahr nur 2,5 Prozent der Studierenden per Briefwahl ein Kreuzchen gesetzt – ein Viertel der Studis, die sonst wählen gehen.

          Digital kann man nicht richtig diskutieren

          Julian erinnert sich noch an den analogen Wahlkampf. Wir sitzen vor der Naturwissenschaftlichen Fakultät. „Hier hatten wir auch mal einen Wahlstand“, sagt er. In dem grauen Gebäude im siebten Stock liegt der Tagungsraum des StuPas. Im „Alten Senatssaal“ war der Name Programm: Es roch nach muffigem Teppichboden, schwere Vorhänge verdeckten die bodentiefen Fenster. Die Tische waren U-förmig aufgestellt, das Präsidium saß am Kopf, die Koalition und Opposition wie zwei Lager auf beide Seiten verteilt. „Man fühlte sich wie ein richtiges Parlament“, sagt Julian. Während der Sitzung wurde ständig getuschelt, die Blicke kreuzten sich mit denen der Opposition. Ablenkungsmöglichkeiten gab es wenige, der Handyempfang war schlecht, und Steckdosen waren rar.

          Digital dauern die Sitzungen länger, es wird öfter und härter diskutiert. „Eine gewisse Grundaggressivität liegt in der Luft“, erzählt Julian. Darunter leidet vor allem die Diskussionskultur. „Das ist kein richtiger Austausch mit Menschen“, sagt er. Dabei lebe das Parlament gerade auch von den zufälligen Treffen und den kurzen Gesprächen zwischendurch.

          Einen Vorteil hat das digitale StuPa: Wir sind fast immer beschlussfähig, da Abgeordnete unabhängig davon, wo sie gerade sind, an den Sitzungen teilnehmen können. Aber die Nachteile überwiegen. Im digitalen Konferenzsystem „Big Blue Button“ bleibt die Kamera aus, man ist leichter abgelenkt. Für Studierende, die noch nicht lange dabei sind, ist das besonders schwierig. „Normalerweise konnte man neue Leute mal zur Seite nehmen, ihnen Sachen erklären oder sie empowern“, sagt Julian. Jetzt ist jeder auf sich gestellt. „Du sitzt da nachts vor deinem Laptop und trinkst allein dein Bierchen.“ Der Kontakt zu den Mitreferentinnen und Mitreferenten fehlt ihm am meisten. „Seit Corona gibt es nichts Schönes mehr an einer StuPa-Sitzung“, sagt Julian.

          Und noch mehr Zeit vor dem Bildschirm

          Wenige Hundert Meter entfernt sitzt die StuPa-Präsidentin Despina Balis in ihrem Büro und plant das nächste digitale Plenum. Wie im Bundestag kümmert sich das Präsidium um alles Organisatorische, übernimmt die Moderation der Sitzungen und führt Personalwahlen durch. „In Präsenz ist das eine Sache von wenigen Minuten, per Briefwahl vergeht eine Woche“, erklärt die 22-Jährige.

          Bei 35 Abgeordneten und knapp 30 Wahlen wurden in der aktuellen Legislaturperiode mehr als tausend Briefe verschickt. „Das ist ein immenser Papiermüll“, sagt die Philosophie- und Politik-Studentin. Als Moderatorin belastet Despina die Stimmung ebenfalls. „Es macht einfach einen psychologischen Unterschied, ob man eine Person vor sich sitzen hat.“ Diskussionen eskalieren viel schneller, wenn Gesichter fehlen. Dazu kommt die generelle Situation des Onlinestudiums. „Wenn du schon zehn Stunden für die Uni vor dem Laptop saßt und dann noch mal fürs StuPa vor den Bildschirm musst . . .“, sagt sie. Sie muss den Satz nicht zu Ende führen.

          StuPa-Präsidentin Despina Balis in ihrem Büro. Seit Corona hat sich ihre Arbeit verändert.
          StuPa-Präsidentin Despina Balis in ihrem Büro. Seit Corona hat sich ihre Arbeit verändert. : Bild: Elisa Kautzky

          Seit ihrem dritten Semester ist Despina in der HoPo aktiv: „Ich finde es wichtig, den Raum mitzugestalten, in dem man sich die meiste Zeit befindet.“ Derzeit plant das Präsidium das erste Präsenz-Plenum seit der Pandemie: Am 15. Dezember soll es stattfinden. „Viele kennen sich nur vom Namen der Hochschulgruppe. Das beeinflusst natürlich den Umgang miteinander“, sagt Despina.

          Es fehlt das wirkliche Miteinander

          Es ist Mittwochabend, 20 Uhr, Zeit für die StuPa-Sitzung. Ich klappe meinen Laptop auf und öffne „Big Blue Button“. Auf der linken Seite ploppen die Namen der Abgeordneten auf. Einige davon kenne ich gut, andere sind nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Im Chat sammeln sich die Ankunftsbestätigungen. Die Letzten trudeln ein. „Wir sind beschlussfähig. Herzlich willkommen zur ordentlichen Sitzung des 71. Studierendenparlaments“, ertönt es aus dem Lautsprecher. Auf dem Bildschirm erscheint die vorläufige Tagesordnung.

          Das Präsidium wird mit Fragen gelöchert: Warum wurde das Protokoll noch nicht hochgeladen? Wie wird die erste Präsenzveranstaltung ablaufen? Anschließend werden die Tagesordnungspunkte abgearbeitet, Änderungsanträge gestellt. Wir debattieren über virtuelle Veranstaltungen und die Digitalisierung des Semestertickets. Neue Personen stellen sich vor, alte verabschieden sich. Auch Julian will seinen Rücktritt bekannt geben. Er fängt bald einen Master in einer anderen Stadt an. Statt die Hand und Stimme zu erheben, reicht ein Klick auf das kleine Mikrofon-Symbol. Es gibt eine kurze Rückkopplung, Rauschen, dann Stille. „Ich hoffe, man hört mich“, sagt er schließlich.

          Missverständnisse eskalieren schneller

          Redebeiträge werden von Kommentaren im Chat begleitet. Ein „+“ bedeutet Zustimmung, ein „-“ Ablehnung – Emotionen und Gefühle minimiert auf einzelne Satzzeichen. Für alle anderen Äußerungen kassiert man einen „Ordnungsruf für unrechtmäßiges Nutzen des Chats“. Statt mit seinen Sitznachbarn und Sitznachbarinnen zu tuscheln, gibt es die Option eines Privatchats. „Ihr könnt jetzt abstimmen.“ Despinas Stimme reißt mich aus den Gedanken. Wo bei einem Antrag früher bunte Stimmzettel ausgefüllt wurden, klicken wir jetzt bei „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“. Ungültige Stimmen wegen vollgekritzelter Stimmzettel bleiben seitdem aus.

          Der nächste Tagesordnungspunkt ist nicht öffentlich. Das heißt: Alle, die keine StuPa-Abgeordnete sind, sollen ihren Ton ausschalten oder die Sitzung verlassen. Analog hätte man jetzt einfach die Tür zugemacht.

          22 Uhr. Nach zahlreichen Pausen und Diskussionen wird die Stimmung aufgeheizter. Auf Missverständnisse folgen Streitigkeiten, aus Meinungsverschiedenheiten werden Grundsatzdebatten.

          23 Uhr. Worum geht es noch mal? Ach ja, ein Ausschuss wird gewählt.

          23.30 Uhr. Die Sitzung wird beendet. „Schönen Abend noch“, ruft Despina in die Runde, im Chat häufen sich die Abschiedsformeln. Laptop zu und ab ins Bett.

          Manchmal fehlt die Empathie

          Anders als Julian bleibt Malu Ortega-Mendez noch etwas länger in Mainz, aber heute würde sich die 24-Jährige nicht mehr aufstellen lassen. Malu ist seit drei Jahren für die Juso-Hochschulgruppe im StuPa, derzeit in der Opposition. „Das macht viel weniger Spaß als früher“, sagt die Lehramtsstudentin. „Die menschliche Ebene ist komplett verloren gegangen.“ Einmal kamen ihr im StuPa sogar die Tränen. „Ohne Kameras sehen die anderen nicht, welchen Schaden ihre Worte anrichten“, sagt Malu. Seit sie die anderen nur noch hören, nicht mehr sehen, achten die Abgeordneten viel genauer auf die Tonlage der anderen. Kein Wunder, dass die Emotionen mal überkochen. „Früher hatte das Präsidium eine wirkliche Präsenz im Raum und dadurch mehr Respekt“, erinnert sich Malu.

          Obwohl es im digitalen Raum schwer ist, wünscht sich auch Despina mehr Empathie unter den Abgeordneten. „Man muss sich einfach vergewissern, dass hinter dem Bildschirm ein Mensch sitzt“, sagt sie. Ohne Präsenztreffen haben es Hochschulgruppen nicht nur schwer, Nachwuchs zu finden, sondern auch, ihn zu halten. „Studierendenvertretung lebt massiv von der persönlichen Vernetzung und dem Bezug zum Campus“, sagt Jonathan Dreusch vom Freien Zusammenschluss von Studentinnenschaften (fzs). Das kann Despina bestätigen: „Du kommst in die HoPo, weil dich jemand über ein Bier anquatscht, und bleibst wegen der Leute.“

          Die geringe Wahlbeteiligung bei der letzten StuPa-Wahl zeigt, dass Studierende seit Corona weniger Berührungspunkte mit der Hochschulpolitik haben. „Das sind zwei Jahre, in denen erheblich weniger Leute angefangen haben“, sagt Despina. „Wir haben große Sorgen, dass eine Lücke in der Aktivenschaft entsteht“, erklärt Jonathan vom fzs. Wie stark der Effekt der Pandemie tatsächlich ist, wird sich erst zeigen, wenn die alten Hasen ausgetreten sind. Dennoch seien „Studierende grundsätzlich bereit, sich zu engagieren.“ Die Fridays-for-Future-Generation ist womöglich politisierter denn je. Stellt sich nur die Frage, ob sie auch Lust auf die Bürokratie hat.

          Die Autorin ist seit 2019 für Campusgrün im StuPa in Mainz und war ein Jahr lang im dortigen AStA als dritte stellvertretende Vorsitzende tätig.

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