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Kolumne „Uni live“ : Stolz und Vorurteil im Studium

  • -Aktualisiert am

Labern contra Rechnen? Die Vorurteile zwischen den Fakultäten sind beharrlich. Bild: Picture-Alliance

In der Pandemie werden so manche Klischees zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern aufgewärmt. Doch woher kommen die bestehenden Vorurteile – und: wer profitiert davon?

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          „Geisteswissenschaftler brauchen für ihr Studium doch sowieso nur ein paar Bücher, die sollen sich wegen Corona nicht so anstellen. Von echten Problemen haben die doch sowieso keine Ahnung.“ – „Naturwissenschaftler sollen mal von ihrem hohen Ross runterkommen, jetzt müssen sie halt eine Weile ohne Laborzugang studieren. Andere schaffen das ja auch.“

          Sätze wie diese hört und liest man als Student in diesen Tagen immer wieder. Sie sind von Frust und Unmut über die gegenwärtige Situation geprägt, denn das Online-Studium ist für viele Studenten lästig und umständlich und hat teilweise wenig mit ihrem Alltag vor der Pandemie gemeinsam. Zusätzlich sehen sie Kommilitonen, denen das digitale Studieren viel leichter zu fallen scheint – und die sich trotzdem über ihre missliche Lage beschweren.

          Viele Studenten scheinen sich derzeit von anderen missverstanden und in ihren Problemen zu wenig anerkannt zu fühlen. Das gegenseitige Unverständnis zeigt sich insbesondere zwischen Studenten der Natur- und Geisteswissenschaften, deren Lebenswelten sich erheblich voneinander unterscheiden. Um ihrem Ärger über die gegenwärtige Lage Luft zu machen, bedienen sie alte Klischees und Vorurteile, die dazu dienen, die Probleme anderer Studenten als nichtig darzustellen und zugleich die wissenschaftliche Relevanz des eigenen Faches hervorzuheben. Die Gräben, die sich schon lange vor Corona zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern aufgetan haben, werden so immer weiter vertieft. Doch woher kommen diese Klischees, und wie sind sie zu erklären?

          Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Natur- und Geisteswissenschaften, zeigt sich, dass viele Vorurteile auf strukturellen Prozessen basieren. Von ihrer Entstehungszeit im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein galt das Grundstudium der sogenannten Artes liberales, der sieben freien Künste Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie noch als Voraussetzung für das Studium der Fächer in den höher gestellten Fakultäten Jurisprudenz, Theologie oder Medizin. Dahinter stand das Ziel, allen Studenten zunächst Kenntnisse im sprachlichen, künstlerischen, mathematischen und naturkundlichen Bereich zu vermitteln und damit eine gemeinsame Grundlage für das weitere Studium zu schaffen.

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          Spätestens als sich jedoch im 19. Jahrhundert die Artistenfakultät, die die gesamte Bandbreite der Artes liberales abgedeckt hatte, in einzelne natur- und geisteswissenschaftliche Fakultäten teilte und viele neue Studienfächer wie Biologie, Physik, Geschichte und Religionswissenschaft entstanden, wurde auch die Idee des Grundstudiums der sieben freien Künste aufgegeben. Stattdessen traten einzelne Studienfächer in den Vordergrund, und die Spezialisierung in einem bestimmten Fachgebiet wurde für die Studenten attraktiv. Die Leitgedanken hinter den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern unterschieden sich dabei von Anfang an: Naturwissenschaftliche Fächer fokussieren sich seit ihrer Entstehung auf die Erforschung der Natur und ihrer Lebewesen, versuchen allgemeingültige Gesetze zu finden und das erworbene Wissen praktisch zu nutzen. Geisteswissenschaftliche Fächer widmen sich dem Verstehen und Analysieren von menschlicher Sprache und Kultur und stellen sich den Grundfragen der Existenz und des Zusammenlebens. Durch die unterschiedlichen Zielsetzungen und Arbeitsweisen in den Geistes- und Naturwissenschaften, denen oft auch eine abweichende Auffassung von Wissenschaftlichkeit zugrunde liegt, sind schon früh Vorurteile entstanden, die bis heute existieren. 

          Naturwissenschaftler treten heute oft mit einem gewissen Stolz auf, betonen die Relevanz ihrer eigenen Arbeit und belächeln Geisteswissenschaftler, die versuchen, ihre Wissenschaftlichkeit in Nachahmung naturwissenschaftlicher Herangehensweisen durch Empirie und Methodik zu belegen. Ein gängiger Vorwurf lautet auch, die Geisteswissenschaftler würden zwar viel reden, aber wenig Substanzielles sagen, und ihre Forschung sei vergeistigt und widme sich unwichtiger Nischenthemen. Geisteswissenschaftler versuchen wiederum häufig, ihre eigene Arbeit und Relevanz dadurch zu rechtfertigen, dass sie kulturelle und historische Phänomene erklären können und die Grundlagen der menschlichen Kommunikation erforschen und bereitstellen. Naturwissenschaftlern werfen sie wiederum vor, nichts als Zahlen und Formeln im Kopf zu haben und kaum einen geraden, gelungenen Satz zu Papier bringen zu können.

          Leitfaden für die Pandemie

          Selbstverständlich sind die Klischees und dahinterliegenden Wirkzusammehhänge weitaus komplexer, als sie hier skizziert werden. Und obwohl jedem, der ein bisschen weiterdenkt, vermutlich bewusst ist, dass Vorurteile und Vergleiche dieser Art im Grunde sinnlos und überflüssig sind, ist es wichtig zu fragen, wo die Ursachen für die aktuellen Probleme liegen. Die gegenseitige Wahrnehmung der Diszipinen wird heutzutage allein durch die räumliche Trennung stark beeinflusst, die sich darin manifestiert, dass die geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer häufig in verschiedenen Gebäuden oder gar auf ihrem jeweils eigenen Campus gelehrt werden. Dadurch lernen die Studenten die Lebenswelt der Anderen kaum kennen und erfahren nur am Rande, welche Probleme und Herausforderungen ihren Alltag bestimmen.

          Durch Corona findet erst recht keinerlei Begegnung mehr statt. Doch zeigt uns gerade die Pandemie, wie stark einzelne Studienfächer auf die gegenseitige Unterstützung angewiesen sind: Der interdisziplinäre Austausch von technischem, sprachlichem und methodischem Wissen könnte womöglich sehr viel weiterbringen, als es das Aufwärmen von Klischees jemals tun wird.

          Vielleicht wäre es an der Zeit, sich auf den Ursprung des Begriffs „Universität“ zu besinnen, der auf das lateinische Wort universitas zurückgeht, das Gesamtheit bedeutet. Die Idee einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die ein gemeinsames Grundverständnis von Philosophie, Sprache und Naturkunde einte, könnte in der Pandemie als Leitfaden dienen, Vorurteile zu überwinden und sich zu fragen: Wie könnten andere Studenten von meinen Fähigkeiten profitieren, und wo brauche ich selbst Hilfe? Wie können wir uns in diesen Zeiten besser austauschen und unterstützen?

          Laura Henkel (24 Jahre alt) beendet derzeit ihren Master in Literaturwissenschaft an der Uni Göttingen, sammelt fremdsprachige Lieblingswörter wie andere Leute Briefmarken, leidet an Abibliophobie und fragt sich, wie man die Disziplin, sechs Bücher parallel zu lesen, zum Beruf macht.

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