Kolumne „Uni live“ : Berlin und der einzig wahre Ring
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Protestaktion gegen Wohnungsnot in Berlin: Eine Frau sitzt im Schaufenster einer Galerie und macht auf ihre Wohnungssuche aufmerksam. Bild: EPA
Wer zum Studieren nach Berlin zieht will meist „im Ring“ leben. Dabei geht es weniger um eine geografische Frage als um eine romantische Vorstellung vom Wohnen in der Großstadt. Unter Kommilitonen kann das für Streit sorgen.
Zu Beginn jeden Semesters mehren sich Aufrufe nach Unterstützung bei der Wohnungs- und WG-Zimmer-Suche in Berlin - so auch in den vergangenen Wochen. Ein solcher Aufruf muss die folgenden Eckdaten enthalten: Gewünschtes Einzugsdatum, gewünschte Zimmergröße oder -anzahl, gewünschte Höchstmiete und die Bitte darum, das Gesuch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zu verbreiten. Sowohl diejenigen, die diese Angaben in eine hübsch verpackte Instagram-Story schreiben als auch die, die sie lesen und mit ihren Followern teilen wissen, von diesen drei Wünschen kann wohl maximal einer erfüllt werden.
Für Zuziehende nach Berlin gehört zu dem Aufruf außerdem der Nachsatz „Bitte im Ring“. Es gab eine Zeit, in der schrieben die Suchenden noch konkret auf, welche Bezirke sie präferierten. Dann fasste man die Wünsche in Beschreibungen wie Südwesten oder Norden etwas größer. Inzwischen ist die Suche nach einem Wohnort innerhalb Berlins ein dermaßen nervenzerreibendes Unterfangen, dass man sich solche Sonderwünsche nicht mehr erlauben kann.
Die Bitte darum „im Ring“ leben zu wollen ist immer ein wenig schüchtern an den Rand des privaten Gesuchs geschrieben. Es ist ein Wunsch, von dem alle Beteiligten sowieso wissen, dass er wahrscheinlich nicht erfüllt wird. Aber versuchen kann man es ja mal.
Synonym für eine coole Nachbarschaft
Geografisch betrachtet bedeutet „Im Ring“, dass die suchende Person gerne im Bereich A des öffentlichen Nahverkehrs, innerhalb der im Kreis fahrenden S-Bahnen 41 und 42, leben möchte. Synonym soll „Im Ring“ für eine gute Anbindung, eine zentrale Lage oder eine coole Nachbarschaft – was das bedeutet ist offen für die eigene Interpretation – stehen. Die Suche nach einer Wohnung „im Ring“ beschränkt sich nicht nur auf die Suche nach einem Wohnort. Es ist die Suche nach einem Gefühl, einem gewissen Leben, von dem Zuziehende glauben, es in Berlin finden zu können.
Auf Instagram und Tiktok wird Schulabgängern ein Bild von Berlin gezeigt, das sich aus lichtdurchfluteten, eklektisch eingerichteten Altbauwohnungen, nächtelangen Clubbesuchen und maßlosem Individualismus zusammensetzt. Diese Träumereien gehören zum Assoziationsbereich von „im Ring“. So kann das Leben in Berlin laufen – vor allem, wenn man Geld und Zeit hat.
Näher an der Realität sind allerdings kilometerlange Schlangen bei Besichtigungen für 9-Quadratmeter-WG-Zimmer, gelegentliche Barbesuche, weil die Uni-Verpflichtungen dann doch dazwischenfunken, und die Erkenntnis, dass individuell sein zu wollen gar nicht so individuell ist. Diese Realisation tritt allerdings meist erst ein, wenn man schon in Berlin ist und mit den Strapazen der hiesigen Wohnungssuche konfrontiert ist. Also wird „im Ring, bitte“ gesucht.
Alles da, aber nicht das, was Zugezogene sich wünschen
Offen und umstritten ist dabei noch, ob dieser Anspruch, innerhalb eines gewissen Bereiches der Stadt leben zu wollen überhaupt gerechtfertigt ist. Nein, sagen meine Freundinnen und Kommilitonen, die in Berlin aufgewachsen sind. Sie argumentieren mit einigen guten S-Bahn-Anbindungen, mit denen man aus den Randbezirken in 30 Minuten den Prenzlauer Berg erreichen könne. Randbezirke-Slander sollten sich Zugezogene sparen, immerhin lebe es sich dort auch sehr gut.
Sie haben recht. In vielen Berliner Randbezirken ist der öffentliche Nahverkehr besser ausgebaut als in Kleinstädten von Rheinland-Pfalz bis Sachsen-Anhalt. In den meisten Berliner Randbezirken lässt sich ein kleines Einkaufszentrum finden, es gibt genügend Auswahlmöglichkeiten in Sachen Supermärkten und zahlreiche Freizeitangebote.
Zumeist muten sie aber leider wie die kleinere Stadt an, die man zu Gunsten eines Lebens in Berlin verlassen hat. Den Anspruch, nicht von einer mittelgroßen Stadt, in der man die eigenen Kindheit verbracht hat, an den Rand Berlins und damit in ein Pendant einer mittelgroßen Stadt zu ziehen, sollten Studierende schon stellen dürfen. Sie sollten aber nicht davon ausgehen, dass ihnen ihre Wunschvorstellung auf dem Servierteller präsentiert wird.
Berliner Ärger über das Überromantisieren
Der Charakter einer Stadt oder zumindest das, was von außen als Charakter einer Stadt betrachtet wird, wird zu einem Teil auch durch die geschaffen, die ihre Wünsche oder Utopien in einen Ort hineintragen und teils trotzig versuchen diese umzusetzen. Ob das Resultat dessen nun wünschenswert ist oder nicht, ist immer auch eine Frage der persönlichen Präferenzen und der politischen Haltung – gerade mit Blick auf Berlin.
Dass gebürtige Berliner sich oft über die überromantisierte Wahrnehmung der Zugezogenen ihrer Stadt ärgern, ist verständlich. Immerhin müssen sie seit Jahrzehnten mit den realen und nicht unbedingt bequemen Umständen umgehen. Sie müssen dabei zusehen, wie die steigenden Preise auf dem Wohnungsmarkt ihre Familien aus ihren Wohnungen verdrängen und wie Kulturräume und die Clubszene sogenannten Stadtquartieren und den darin beheimateten Luxusappartements weichen müssen.
Nun sind die Profiteure dieser Entwicklung aber nicht die zuziehenden – meist finanziell eher bescheiden begüterten – Studierenden, die sich ein Leben mit neuem Freiheitsempfinden und Distanz zu ihren Kindheitserinnerung wünschen. Sie finden ebensowenig einen Schlafplatz „im Ring“. Dass sich beides in das Berlin im Klammergriff haltende Problem der Wohnpolitik akkumuliert, muss hier nicht nochmal neu erzählt werden. Ich könnte jetzt sagen, die gebürtigen Berliner sollten ihre Wut lieber gen Politik richten statt an die Zugezogenen, die genauso zum Opfer der Umstände der Stadt werden. Aber mit einer solchen Aussage würde ich mich als Zugezogene, die im Ring lebt, womöglich auf gefährliches Glatteis begeben.
Katharina Heflik (24 Jahre alt) ist vor fünf Jahren zum Studieren aus der gutbürgerlichen Vorstadt Münsters in den Berliner Osten gezogen und fragt sich ab und an, ob ihr auch das Leben in einer klassischen Studentenstadt gefallen hätte.