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Kolumne „Uni live“ : Studieren mit einer Depression

  • -Aktualisiert am

Mit einem „schwarzen Hund“ hat Winston Churchill die Depression verglichen. Was tun, wenn sie einen im Studium überfällt? Bild: dpa

Als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund kostet es viel Überwindung, an der Uni ein Attest einzureichen – zumal wegen einer psychischen Erkrankung. Ein Treffen mit dem Politik-Student Iago Romero.

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          Hinter der Flagge der Vereinten Nationen versteckt stehen die Bierkästen. An einer Garderobenstange hängen Badehosen und -tücher. Direkt vor dem Fenster fließt der Eisbach durch den Englischen Garten in München – fast wie bei den echten Vereinten Nationen am East River in New York. Hier unten, im Keller des Politikinstituts in der bayerischen Landeshauptstadt, wird Weltpolitik verhandelt, denn hier trifft sich regelmäßig die studentische Delegation, die München bei den simulierten „Model United Nations“ vertritt. Als leidenschaftliche, eingeschworene Gruppe, die in ihren politischen Reden auch Luftschlösser bauen darf, sind sie so etwas wie die Theaterkids der Sozialwissenschaften.

          Besonders emotional waren die gemeinsamen Monate für den Dreiundzwanzigjährigen Iago Romero*. In diesem Zimmer hat er Freundinnen und Freunde gefunden, die von seiner psychischen Erkrankung wissen und ihn so akzeptieren, wie er ist. Die Interessen von Vietnam, Saudi-Arabien und Indonesien hat Romero bei der Modell-UNO schon vertreten. Nun nimmt er auf einem Sessel im Institutskeller Platz und setzt erstmals zu einer Rede über seine eigene Situation an.

          Seit einer Woche nimmt er Antidepressiva und feilt noch an der richtigen Dosierung. Er fürchtet die Nebenwirkungen, spürt bereits leichte Übelkeit und ein Hitzegefühl, doch nach drei Jahren Verhaltenstherapie habe kein Weg mehr an den Tabletten vorbei geführt. „Ich kann die Depression nicht mit Self-Care besiegen, wenn ich es nicht mal schaffe, mir die Zähne zu putzen“, sagt er ein wenig sarkastisch. Manchen Leuten ist es kaum verständlich zu machen, dass der strahlende Sonnenschein, der gerade durch das Fenster mit Parkblick fällt, Romeros Leiden nicht lindern kann.

          Die große Erschöpfung

          Er sucht nach einem anschaulichen Vergleich. „Wie ein Köter“ habe ihn das verfolgt, was im dritten Semester seines Politikstudiums mit einem psychischen Zusammenbruch begann. Der „schwarze Hund“ ist eine durch Winston Churchill berühmt gewordene und seitdem viel rezipierte Metapher, die besonders aussagekräftig für das Lebensgefühl mit einer depressiven Störung zu sein scheint. „Wie unter einer bleiernen Decke“ sei Romero jeden Morgen aufgewacht, um dann „in Watte gepackt“ den Tag zu verbringen, erzählt er. Von jetzt auf gleich ereilte ihn eine große Erschöpfung, die es unmöglich machte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Seine tägliche Herausforderung bestand plötzlich darin, Vitalfunktionen am Laufen zu halten; also wenigstens einmal am Tag zu essen.

          Entsprechend schwer sei es gewesen, dieses Siechtum mit seinem Ego zu vereinbaren. Was würde er alles verlieren, was könnte er sich von seiner Zukunft noch versprechen, wenn das so weiterginge? Das Untätigsein führte in eine Art Teufelskreis. Viel Selbstvertrauen habe er noch nie besessen. Romero kommt aus einer Arbeiterfamilie und ist wegen seiner kolumbianischen Wurzeln eine Person of Color. Wenn diese Biografie nicht bereits seine Leistungen relativierte, wie er insgeheim dachte, und ihn an der Uni zu einem Hochstapler machte – „fehl am Platz zwischen all den Überfliegern“ –, dann doch spätestens die Extra-Zeit, die er wegen der Depression für seine Hausarbeiten benötigte. Schickte er ein psychiatrisches Attest an einen seiner Dozenten, bekam er das Gefühl, einen unfairen Vorteil einzuheimsen, und erklärte sich jedes Mal mit einer ausführlichen E-Mail.

          In dem Mail-Verkehr sieht Romero aber auch eine politische Mission. Den Lehrkörper über psychische Störungen aufzuklären, sei eine echte Pionierarbeit. Beim nächsten Mal, wenn jemand anderes in der gleichen Situation ist wie er, wäre dann schon ein grundlegendes Bewusstsein geschaffen. Und nachfolgende Generationen von Studierenden würden es ihm danken: „Es ist zynisch, ausgerechnet von Depressiven zu erwarten, dass sie sich mit dem System anlegen.“ In einer Leistungsgesellschaft sei eine Depression keine Privatangelegenheit mehr, sagt Romero, sie mache einen vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig. Trotzdem fühle sich das Coming-Out weiterhin wie ein Ausstellen des Privatlebens an. Das gesellschaftliche Klima entscheide in Zukunft, wie groß diese Hürde für die Betroffenen ist.

          An der Wand hängt ein Stadtplan von New York City, dem Sehnsuchtsort der Jungdiplomaten, den sie wegen der Corona-Pandemie noch nicht erleben durften. Bei der ersatzweise online ausgerichteten Konferenz wurde das Team aus München immerhin schon als „herausragende Delegation“ ausgezeichnet. Solche Preise oder Komplimente anzunehmen, fällt Romero nach wie vor schwer. „Je höher der Flug, desto tiefer wird der Sturz“, hatte er sich lange Zeit als Vorsichtsregel eingeschärft, um depressive Episoden abzufangen. Ein paar wenige seiner Model-UN-Kollegen wussten mit seinen Gemütsschwankungen nicht so recht umzugehen, sie hielten eine der beiden Seiten für nicht echt.

          In beide Richtungen schlägt seine Stimmung jetzt weniger aus, seit er die Antidepressiva einnimmt. Auch die Höhenflüge werden von ihnen gedämpft. Zum Beispiel vermisst er seine intensive Wahrnehmung und Rührung. Er weint nicht mehr wie früher Rotz und Wasser, wenn er sich Richard Wagners „Tristan und Isolde“ oder andere Opern auf seinem Smartphone anhört; die Musik habe einen anderen Klang bekommen.

          „Wie ein Angriff unter die Haut“ seien solche Eindrücke früher gewesen, und Romero überlässt es dem Zuhörer, zu entscheiden, ob dieser Vergleich etwas Gutes oder Schlechtes ausdrückt. In jedem Fall will er mit den Nebenwirkungen der Antidepressiva nicht für immer leben. Er hofft, sie eines Tages absetzen zu können, einen Kompromiss zwischen den Extremen zu finden und sich mit seiner sensiblen Seite zu versöhnen.

          * Iago Romero ist ein Pseudonym, das sich der Student überlegt hat. Sein Klarname ist der Redaktion bekannt.

          Victor Sattler (23 Jahre alt) studiert Psychologie und Soziologie an der Universität München. Echte Menschenkenntnis sammelte er aber eher als Kellner, Bartender, Nachhilfelehrer oder am Theater.

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