Kolumne „Uni live“ : Das Bildungssystem ist auf ChatGPT nicht vorbereitet
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Wie könnte eine Anwendung von ChatGPT an den Schulen aussehen? Bild: dpa
ChatGPT hat in nur wenigen Wochen die akademische Welt erschüttert. Aber ist sie erschüttert genug? Man kann den Eindruck gewinnen, dass viele Dozenten die Lage unterschätzen und falsche Schlüsse ziehen.
In meinem digitalen Papierkorb liegt ein Essay über Dystopien. Sieben Seiten Analyse, geschätzter Arbeitsaufwand sonst ungefähr 12 Stunden. Dieses eine Essay aber, über das ich nachts im Bett noch lange grübeln werde, ist anders entstanden. Es hat mich nur ein paar Klicks und eine einzige Frage gekostet: „Schreib eine wissenschaftliche Arbeit über die Zukunftsvisionen Orwells“. Nur Sekunden später lag mir ein Text vor, der mich staunen lässt.
Mein flinker Ghostwriter hat erst vor vor wenigen Wochen das Licht der Welt erblickt und ist in die Tech-Welt eingeschlagen wie eine Bombe. ChatGPT nennt sich das Programm, das mithilfe einer künstlichen Intelligenz auf fast jede Frage eine Antwort findet. Der Chatbot spuckt auch komplizierte akademische Texte aus, man muss nur gezielt danach fragen. Auf den ersten Blick sind diese sogar richtig gut.
Diese Technologie wird die akademische Welt auf dem Kopf stellen, das ist sicher. Plagiate sind schon jetzt nur sehr schwer zu identifizieren. Mit Umschreib- und Übersetzungstools können bestehende Arbeiten so frisiert werden, dass sie von keinem Plagiatsprogramm der Welt mehr enttarnt werden können.
ChatGPT ist nicht fehlerfrei
Und jetzt gibt es auch noch eine Software, die in Sekundenschnelle individuelle akademische Texte kreiert. An meiner Uni sind viele Dozenten ziemlich unbesorgt. KI, die Texte schreibt, gäbe es schon länger, heißt es. Sie vertrauen auf die Selbständigkeitserklärung, die jeder bei Abgaben unterschreiben muss. Und genau das halte ich für einen Fehler: Ich kenne schon einige Kommilitonen, die ChatGPT zum Betrügen nutzen.
„Keine große Sache“, behaupten andere und weisen darauf hin, dass KI-generierte Texte Fehler haben, dass sie sich nicht um die Genauigkeit kümmern und dass sie lügen. Sie produziert zum Beispiel falsche Zitate und reproduziert bereits bestehende Vorurteile in der Literatur. Außerdem erfindet der Chatbot Quellen und kann sogar die eigenen Argumente widerlegen. Fehlerfrei ist sie wirklich nicht – menschliche Korrektur bleibt von entscheidender Bedeutung.
Abschlussprüfung an Elite-Uni: kein Problem
Andererseits: Mit nur wenigen Nachfragen justiert und korrigiert der Bot sich selbst. So wird der produzierte Text immer und immer besser. Mit eigener Quellenrecherche und etwas Anpassung lassen sich gute Arbeiten herstellen. Das hat zum Beispiel auch ein deutscher Wharton-Professor probiert. Die von der KI generierte Arbeit bestand die BWL-Abschlussprüfung der amerikanischen Elite-Uni umgerechnet mit der Note 2.
Es ist noch zu früh, um den Untergang des vom Menschen produzierten Wortes zu betrauern oder zu feiern. Aber so viel steht fest: Schon jetzt wird KI genutzt, um die eigenen Leistungen zu optimieren. Wichtig ist, dass Universitäten und Dozenten sich gegenüber diesen Veränderungen nicht sperren. ChatGPT zu ignorieren oder die Software zu verbieten, wird ihren Missbrauch weder verhindern, noch die Lage irgendwie verbessern.
Es braucht dringend Bildungsforschung, Reformen und ein radikales Umdenken von Prüfungsleistungen. Wir Studierenden müssen uns auf eine Zukunft vorbereiten und vorbereitet werden, in der KI-basiertes Schreiben akademischer Alltag ist. Wir müssen lernen, wie KI funktioniert. Erst dann können wir sie auch gewinnbringend und arbeitssparend einsetzen.
Das Bildungssystem ist jetzt schon überfordert
Irgendetwas sagt mir, dass unser Bildungssystem darauf nicht vorbereitet ist und Jahre brauchen wird, um sich anzupassen. Ich habe mal bei der Heinrich-Heine-Uni in Düsseldorf nachgefragt, an der ich studiere. Dort heißt es, dass noch niemand weiß, ob ChatGPT eine Bedrohung oder eine Chance ist. Die Studis sind flink im Betrügen, die Unis lahmen bei der Aufarbeitung. Das war vorhersehbar.
Daher wird es bald wohl pragmatische Lösungen geben, beispielsweise mehr mündliche Prüfungen und Klausuren in Präsenz. Aber: Künstliche Intelligenz wird den akademischen Schreibprozess wohl nicht vollkommen ablösen. Taschenrechner haben nicht die Mathematik aufgelöst, Übersetzer-Apps machen Sprachkenntnisse nicht unbrauchbar. Außerdem haben sich Rechtschreib- und Grammatikprüfer schon fest in unsere Schreibpraxis integriert.
Die KI unterstützend zu nutzen, etwa als Synonym- und Ideenmaschine, birgt auch eine Menge Chancen. Für die akademische Welt wird die Technologie erst dann gefährlich, wenn Studierende und Forschende die auf KI basierende Arbeit als die Eigene ausgeben. Doch so wie Spicker bei den meisten Prüflingen eher eine mit Nervosität verbundene Notlösung sind, könnte auch ChatGPT die Alternative zu schlaflosen Nächten vor dem Schreibtisch sein.
Wir Studis befinden uns gerade in einer ziemlich spannenden Zeit. Sie wird andauern, über Monate, Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, bis sich klare Regelungen durchsetzen werden, die auch funktionieren. Noch ist ChatGPT unzuverlässig. Abzuwarten bleibt, ob seine optimierten Nachfolger nochmal deutlich besser werden. Bis dahin verbanne ich ein jedes KI gestütztes Essay in den Papierkorb.
Tom Konjer, 21 Jahre alt, studiert Englisch und Politik in Düsseldorf. Glaubt noch fest an den Abschluss in der Regelstudienzeit, obwohl es dafür eigentlich schon zu spät ist.