Analphabeten in Deutschland : Autokraten schätzen keine Schriftgelehrten
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Einiges vom Geist dieser Jahre steckt auch in der Fundamentalkritik, die Morais an den Staaten des Westens übt. In ihnen sieht er ausnahmslos kapitalistische „Pseudo-Demokratien“, mit wirtschaftlichen und politischen Eliten an der Macht, die ihre Bevölkerungen in einem semi-literaten und damit unmündigen Zustand halten. Auch wenn die Menschen in diesen Ländern im technischen Sinne lesen und schreiben können, sind sie doch in ihren kognitiven, argumentativen und kommunikativen Fähigkeiten so stark beschnitten, dass sie ihre eigentlichen Interessen nicht angemessen erkennen, artikulieren und zur Geltung bringen können.
Morais verbindet die Engführung von „echter“ Literalität und „echter“ Demokratie mit einer idealistischen Aufladung beider Begriffe: Literalität ist für ihn unlöslich mit der Fähigkeit des kritischen Denkens und selbstbestimmten Handelns verbunden. Demokratie wiederum ist Ausdruck eines egalitären und freiheitlichen „Wir-Bewusstseins“, in dem der wahre Volkswille zum Ausdruck kommt. Den Hinweis auf die hohen Alphabetisierungsraten in autoritären Regimen wie China lässt Morais als Gegenargument ebensowenig gelten wie die populistischen Formen des „Volkswillens“. Das eine ist für ihn keine wirkliche Literalität, das andere kein wirklich demokratisches Bewusstsein. Während Morais den Begriff der Literalität normativ überhöht, ist seine Beschreibung der „Pseudo-Demokratien“ als kapitalistische Plutokratien holzschnittartig.
Die Digitalisierung des Lesens und Schreibens
In Deutschland und anderen europäischen Ländern laufen Programme zur Förderung der Literalität – im Vollsinn des Wortes – schon seit vielen Jahren. Dass die Schreib- und Lesekompetenz gleichwohl oft nicht ausreicht, hat viele Ursachen. Große Klassen und Vielsprachigkeit in den Schulen gehören dazu, aber ebenfalls Lehrmethoden, die auf dem Irrtum beruhen, anspruchsvolle Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben könnten rein spielerisch und ohne systematisches Training erworben werden.
Wie diese scheinbar fortschrittliche Erleichterungspädagogik den Lobbyisten bildungstechnologischer Unternehmen in die Hände spielt, zeigt sich zurzeit in den Kontroversen um die Digitalisierung des Lesens und Schreibens in den Schulen. Die Schnittstelle zwischen Literalität und Digitalkapitalismus greift auch Morais kurz auf und hier wird seine Kapitalismuskritik ebenso konkret wie interessant: Er zeigt an einem Beispiel aus Indien, welche Interessen die IT-Industrie an einer niedrigen Literalität hat, um auf den Massenmärkten Asiens und Afrikas Apps und andere digitale Hilfsmittel zu verkaufen, die nicht auf Schrift, sondern auf Bildern, Tönen und Stimmen basieren und somit Lesefähigkeiten scheinbar überflüssig machen.
Es sind diese Zusammenhänge, die deutlich machen, dass José Morais’ Botschaft bei all ihrer Grobkörnigkeit einen wahren Kern hat. Eine tiefe Schreib- und Lesefähigkeit ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Vielleicht nimmt die „Nationale Dekade der Alphabetisierung“ ja noch etwas Schwung auf. Bis 2026 dauert sie noch.