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Philologie-Debatte : Schlechte und gute Traditionen?

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Alfred Einsteins monumentale Geschichte des italienischen Madrigals, die 1949 in drei Bänden auf Englisch erschien und die man als philologische Kärrnerarbeit wird bezeichnen dürfen, kann als Meilenstein der Forschung gelten, bis in die Gegenwart hinein. Das Werk war überschattet von der Flucht des Verfassers, erst nach Italien, dann nach Amerika. Willi Apel, dessen für Generationen prägende Studien zur mittelalterlichen Notation man mühelos sogar als positivistisch in einem strikten Sinne charakterisieren kann, konnte seine schon einschüchternd präzise Dissertation 1936 in Berlin gerade noch abschließen, unmittelbar danach musste er jedoch aus Deutschland fliehen. Wie viele Musikforscher gab es dagegen, wie eben Besseler oder Werner Korte oder auch der junge Eggebrecht, die der Philologie im engeren Sinne fernstanden und in den fatalen Bann des Nationalsozialismus gerieten.

Ein heikler Vorgang

Die Dinge sind sogar noch komplizierter, weil es auch dafür natürlich Gegenbeispiele gibt. Günter Anders hat seine musikästhetische Habilitationsschrift, die man sogar als anti-philologisch bezeichnen könnte, unter strikter Heidegger-Observanz geschrieben. Eine irgendwie geartete Nähe zum Nationalsozialismus scheidet dabei selbstverständlich aus. Auf der anderen Seite formierten sich spektakuläre philologische Entscheidungen. Alfred Orel trieb in der Wiener Bruckner-Philologie den Gedanken voran, von synthetisierenden Editionen der „Fassungen“ Abstand zu nehmen; ein irritierend hellsichtiger, fast auf die New Philology vorausweisender Ansatz. Er hat ihn nicht davor bewahrt, sich 1938 euphorisch mit den neuen Machthabern zu solidarisieren.

Es lässt sich also, wenigstens in der Musikwissenschaft, kaum ein sinnvoller Zusammenhang zwischen Philologie und Weltanschauung herstellen. Der Respekt vor Gelehrten wie Adler oder Einstein verbietet dies sogar. Es gibt keine notwendigen methodischen Kausalitäten. So macht man es sich zu einfach, wenn man gleichsam drohend auf die vermeintlich unausweichlichen Folgerichtigkeiten von bestimmten habituellen, „schlechten“ Entscheidungen verweist. Der Umgang mit Texten – und Partituren kann man getrost dazu zählen – ist ein heikler, ein schwieriger Vorgang, das wusste schon Wilhelm Dilthey. Aber der damit verbundene Standard, also die „Professionalität“ des Geschäfts, lässt sich in keiner Weise (und in keine Richtung) weltanschaulich plausibel in Beschlag nehmen. Das diskreditiert nicht nur, ungerechtfertigt, eine Methode, sondern entlastet, ungewollt, auch die Akteure.

Die Integrität von Texten

Debatten können fruchtbar sein, und es ist sicher an der Zeit, sich zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts der philologischen Tätigkeit erneut zu vergewissern. Doch sie werden dann fruchtlos, wenn sie von pauschalen Voreingenommenheiten überschattet werden. Eine Tradition ist eben nicht deswegen „schlecht“, weil einige der Akteure sich mit Verbrechern gemein gemacht haben. Denn es waren, wie genügend Gegenbeispiele zeigen, eben nicht alle, und so liegt die Verantwortung nicht in der Methode, sondern bei den handelnden Individuen.

Allerdings könnte eine Lehre aus diesen Wirrnissen darin bestehen, es mit der Integrität von Texten so genau wie möglich zu nehmen. Das mag angesichts lang anhaltender dekonstruktivistischer Debatten als unzeitgemäß erscheinen. Aber die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts verweisen eben in einer unendlich erscheinenden Vielfalt darauf, wie es werden kann, wenn man diese Integrität von Texten entweder im eigenen Tun oder in der eigenen lebensweltlichen Umgebung nicht mit dem größten Respekt behandelt. Es ist daher vielleicht doch nicht so unzeitgemäß, sich im einundzwanzigsten Jahrhundert genau daran zu erinnern – und daraus eine Verpflichtung zu beziehen, zum besonnenen, nachdenklichen und, vor allem, historisch genau unterfütterten Umgang mit jenem abstrakten Gegenüber, das wir Text nennen und das uns auf eine so eigenartige, fragile Weise mit einer zumeist weit entfernten Vergangenheit verbindet.

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