Trend in Wissenschaft : Leben wir in einer unordentlichen Welt?
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Nach Hans Blumenberg war das heliozentrische Weltbild (Bild der Prager Rathausuhr) ein Werk der Theorie, das erst später empirisch bestätigt wurde. Bild: Your_Photo_Today
Ohne Theorie würde kein Computer laufen, doch die Wissenschaften rechnen heute lieber mit den Beständen. Was eine Zeit entdeckt, die der großen Theorien müde ist.
Eine Natur, von ewigen universellen Gesetzen gelenkt, und eine Wissenschaft, die diese Gesetze erkennen und in umfassenden Theorien erklären kann, wie alles mit allem zusammenhängt: Das ist ein heimeliges Bild und, wie die meisten dieser Bilder, vermutlich falsch. Tatsächlich hat sich über die Fachgrenzen hinweg eine gewisse Theoriemüdigkeit breitgemacht. Kaum jemand zweifelt ernsthaft an Thermodynamik oder Quantentheorie. Doch große neue Entwürfe kommen derzeit weder aus den Natur- noch aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften. „Bei den Großtheorien sehen wir eine gewisse Stagnation, die Fortschritte der letzten Jahre gehen auf ältere Theorien zurück, neue Naturgesetze entdecken wir eigentlich nicht mehr“, konstatiert etwa der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier.
Stattdessen wird diskutiert, ob Algorithmen, mit Massen von Daten gefüttert, die Wissenschaft in Zukunft mehr oder weniger theoriefrei unter sich ausmachen werden. Geradezu sprichwörtlich steht dafür der Satz des ehemaligen IBM-Forschers Frederick Jelinek, immer, wenn er einen Linguisten feuere, verbessere sich die Spracherkennung seiner Systeme. Will sagen: Euer mühsam erarbeitetes Wissen und eure Theorien braucht im Daten-Zeitalter niemand mehr.
1965 publizierte der Soziologe Helmut Schelsky das Konzept einer Reformuniversität, die sich vor allem der „theoretischen Seite der modernen Wissenschaft“ zuwenden sollte. Vergangenes Jahr überschrieb die Bielefelder Universität, in der sich Schelskys Idee der „theoretischen Universität“ mit viel Beton und Glas materialisierte, die Konferenz zu ihrem 50-jährigen Bestehen mit der Frage: Haben sich die großen Theorien überlebt?
Abgesang auf die großen Theorien?
Zwar gibt es noch Wissenschaftler wie den Leidener Quantenphysiker Carlo Beenakker, der auf der Konferenz befand, mit den großen physikalischen Theorien käme man den ewigen Wahrheiten so nah, wie es in diesem Leben nur möglich sei. Und Robbert Dijkgraaf, Leiter des Institute for Advanced Study in Princeton, schwärmte von den eleganten Möglichkeiten der Stringtheorie, die Grundkräfte des Universums einheitlich zu beschreiben. Dennoch setzt sich mehr und mehr eine pragmatische Sicht auf die großen Erklärungen durch. Das kann man beklagen, man kann es aber auch als Erfolgsgeschichte lesen.
Die Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright etwa kann dem Abgesang auf die großen Theorien nicht viel abgewinnen. Sie interpretiert „groß“ allerdings als „weit“, als „umfassend“. Eine Theorie, ganz klassisch verstanden als deduktiv geschlossenes Netz von Sätzen, sei gehaltlos und unbrauchbar. Doch gerade deshalb seien sehr viele Theorien nötig, so Cartwright: kleine Theorien, mittlere Theorien und vielleicht auch ein paar große.