
Kolumne „Nine to five“ : Führungskraft vor Furnierkirsche
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Regieren in Coronazeiten: Bild aus Boris Johnsons-Twitter-Feed der an einer virtuellen Kabinettssitzung mit einigen Ministern teilnimmt. Bild: dpa
Regierungen „treffen“ sich per Videokonferenz und auch viele Arbeitnehmer kommunizieren so mit Kollegen oder Vorgesetzten. Da ergeben sich interessante Einblicke.
Bitte erscheinen Sie nicht persönlich, wir führen das Vorstellungsgespräch virtuell.“ Seit dieser Mail ist die Nachbarstochter noch nervöser: Die Schalte, kein Problem, sie ist Digital Native. Aber der Rest. Wo soll ich sitzen? Was ziehe ich an? Die Familie zieht von Raum zu Raum. Jugendzimmer mit Poster-Patchwork geht gar nicht. Wohnzimmer mit Chill-Sofa? Vergesst es! Arbeitszimmer?
Gibt es nicht. Lässt sich die Nähecke im Flur umrüsten? Weg mit den Blümchenstoffen und Dekokörben, neutrale Ordner ins Regal, sieht seriös aus. Bei den Probeaufnahmen fliegt der schwarze Blazer raus, zu düster in diesen harten Zeiten, die blaue Jacke der Schwester tut es auch. Unser Arbeitsleben fühlt sich aktuell so an, als wären wir im falschen Film.
In der Videokonferenz sitzt der arrogante Ästhet, der stets ein Proust-Zitat im Original parat hat, vor der spießigsten aller Spießervitrinen – ein Albtraum in Furnierkirsche. Darin paradiert aber kein Proust, da lagert Stephen King mit Eselsohren neben einem potthässlichen Keramikhahn. Wer hätte das gedacht? Fasziniert ob dieses Kulissenhorrors reiben wir uns weiter die Augen. Wer hockt denn da im Chaos-Küchen-Homeoffice? Der Typ, der sich zerzauselt im Kapuzenpulli vor seinem Laptop aufgebaut hat, ist das wirklich der zugeknöpfte Abteilungsleiter, der diskutiert, wie wir die stornierten Aufträge abfedern?
Hauptsache, wir bleiben gesund!
Hat der in einem der oberschlauen, zusammengeschnurgelten Wie-führe-ich-durch-die-Krise-Ratgeber gelesen, dass er sich jetzt kumpelhaft geben sollte, Hoodie statt Sakko als vertrauensbildende Maßnahme: Hey Kumpel, wir sitzen alle in einem Boot und trotzen als Team der Katastrophe?
Wir selbst sind vor der Videoschalte noch mal ins Bad geeilt, Augenringe vom nächtlichen Netflixen übertünchen, Tuch greifen, um das Knitter-T-Shirt zu kaschieren. Winke, winke, wir sind da. Unsere Beine stecken in Schlabberhosen unterm Tisch, ist halt so. Wir haben ohnehin das Gefühl, die Kontrolle über einen Teil unseres Lebens verloren zu haben. Den Friseurbesuch können wir uns in der nächsten Zeit abschminken. Schaun wir mal, was da an selbstgefrickelten Topfschnitten und Zauselbärten noch auf uns zukommt. Egal. Hauptsache, wir bleiben gesund.
In der Kolumne „Nine to five“ schreiben wechselnde Autoren einmal in der Woche über die Kuriositäten des Arbeits- und Hochschullebens.