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Methoden-Debatte : Literaturwissenschaftler lesen ungenau? Krisengerede!

  • -Aktualisiert am

Patti Smith beim Close Reading Bild: Getty

Alle Methodenfragen sind politisch: Im Ruf nach einer Renaissance der Philologie verrät sich Misstrauen gegenüber dem Pluralismus. Eine Antwort auf Melanie Möller.

          6 Min.

          Bot Ihnen schon einmal jemand einen Ausweg aus einer Krise an, von der Sie gar nichts wussten? Als Literaturwissenschaftlerinnen kennen wir solche Situationen sehr gut. Wir arbeiten in verschiedensten Bereichen, widmen uns digitaler Editionswissenschaft, sozialwissenschaftlicher Leserforschung oder kulturwissenschaftlicher Analyse des Medienwandels und der Geschlechterbilder. Diskussionen über unterschiedliche Zugänge zu literarischen Texten zu führen und dabei die Potentiale und Limitierungen verschiedener, durchaus miteinander konkurrierender Theorien zu bewerten gehört zu unserem Alltag. Was aber, wenn jemand behauptet, dass genau diese differenzierten Debatten selbst Teil eines grundsätzlichen Problems seien?

          Unter der Überschrift „Lassen wir die Sache“ erschien am 1. Juni in der F.A.Z. ein Artikel, der unter dem Schlagwort „Renaissance der Philologie“ eine grundsätzliche methodische Neuausrichtung reklamiert. Diese sei nötig, da die „Arbeit am Text“ zu einem „Randphänomen“ geworden sei. Von Beiträgen, die einfache Dichotomien anbieten, geht häufig eine erhebliche Provokation aus. Sie kommen als Plädoyer für etwas daher, hier Rephilologisierung genannt, werten oft aber implizit eine Position ab. Im Artikel von Melanie Möller bleibt diese seltsam unkonkret. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Kritik auf den methodischen Pluralismus und ganz spezifisch auf eine kulturwissenschaftlich arbeitende Literaturwissenschaft zielt. Das Muster scheint bekannt: In Berichten über Jahrestagungen fachwissenschaftlicher Gesellschaften wird oft beklagt, dass kaum zu erkennen sei, was die großen Themen und Innovationen seien. Das Narrativ der Krise verstellt den Blick auf die Frage, was die Vielfältigkeit fachwissenschaftlicher Entwicklungen leistet. Darüber hinaus ist kritisch zu fragen, welche Vorstellungen von besseren früheren Verhältnissen in solchen Verfallsszenarien entworfen werden.

          Den Rahmen für solche Klagen bildet die vielbeschworene Krise der Geisteswissenschaften. Zwischen Rückblicken auf die Bologna-Reform, Fragen der Hochschulfinanzierung und Zukunftsaufgaben wie Digitalisierung sehen sich die Geisteswissenschaften einem erhöhten Druck ausgesetzt, ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen. Nun ist die Wiederholung von Krisendiagnostiken nicht notwendig ein Indiz dafür, dass es gar keine Krise gebe. Das Problem ist daher weniger, dass Fragen wiederholt werden, als dass sie kaum als Möglichkeit erscheinen, konkrete Probleme zu artikulieren. Denn explizit oder implizit werden in solchen Debatten Forderungskataloge an die Geisteswissenschaften formuliert. Diese Spezifik der Wissenschaftskommunikation ist mitzudenken, wenn einem breiten, nicht fachspezifischen Publikum Trends und Perspektiven präsentiert werden.

          Philologie contra Literaturwissenschaft?

          Dass die Latinistin Melanie Möller jetzt eine Renaissance der Philologie ausruft, ist verblüffend. Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde mit der Losung der Rephilologisierung die Öffnung der Literaturwissenschaft für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden kritisiert. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich aber aus der behaupteten Alternative „Rephilologisierung oder Erweiterung?“ ein differenzierter Umgang mit dem Cultural Turn entwickelt. Diskursanalyse, New Historicism oder auch interdisziplinäre Gedächtnisforschung sind Teil des Methodenparcours geworden, und ein fester Kanon hat sich etabliert. Dies bedeutet nicht, dass die methodische Reflexion ans Ende gekommen wäre, vielmehr sind unterschiedliche Modi zu besichtigen, wie das grundsätzlich veränderte Text-Kontext-Verständnis, das kulturwissenschaftliche Interpretationen auszeichnet, für „klassische“, dem Einzeltext verpflichtete Erkenntnisziele fruchtbar gemacht wird.

          Für diese Aushandlungsprozesse ist es nicht hilfreich, wenn längst überwundene Dichotomien wieder belebt werden. Melanie Möller erklärt Philologie und Literaturwissenschaft zu Gegensätzen: Philologie betreibe das „Kerngeschäft“ der Textinterpretation und sei einem genauen Lesen verpflichtet, während sich Literaturwissenschaft ausschließlich für thematische und kulturhistorische Kontexte interessiere. Um zu erkennen, wie undifferenziert dies ist, kann man etwa den New Historicism betrachten, der vor mehr als dreißig Jahren das Close Reading aus dem textimmanent arbeitenden „New Criticism“ entliehen und um die Text/Kontext-Dimension erweitert hat. Gerade aus präzisen Analysen literarischer Texte zieht die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ihre wesentliche Inspiration, ohne dabei aber den historischen Kontext aus den Augen zu verlieren.

          Ebenfalls problematisch ist, dass Möller kulturwissenschaftliche Lektürepraktiken auf Distant Reading reduziert. Dabei verkennt sie zum einen die Zielsetzung dieser für große Datenmengen produktiven und sich explizit vom Close Reading absetzenden Richtung der Digital Humanities. Zum anderen suggeriert sie, die von ihr als vorherrschend präsentierte kulturwissenschaftliche Praxis, Literatur an ihrem gesellschaftlichen Beitrag zu messen, basiere auf „flüchtiger Lektüre“. Solche gänzlich schiefen Zuschreibungen fallen hinter alle um Differenziertheit und Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven bemühten fachwissenschaftlichen Diskussionen zurück.

          Die politische Sprengkraft kulturwissenschaftlichen Arbeitens

          In Teilen der Literaturwissenschaft mag es den Wunsch geben, das ,genaue Lesen“ als „Kerngeschäft“ zu definieren. Dieser Wunsch wurzelt in einer Abwehrhaltung. Verräterisch ist Möllers Begriff „prekäre Verhältnisse“, mit dem sie Methodenimport und interdisziplinäre Arbeitsweisen kritisiert. In Frage gestellt wird, dass die kulturwissenschaftliche Öffnung der Literaturwissenschaft eine forschungspolitisch kluge Reaktion auf Fragen nach Fächergrenzen und interdisziplinären Gesprächen war. Sie fand in fächerübergreifend kulturwissenschaftlich orientierten Studiengängen Ausdruck, die zahlreichen kleineren Philologien das Überleben in einer hochschulpolitisch angespannten Situation gesichert haben. Und wie steht diese einsame Textinterpretation eigentlich zur herrschenden Praxis von Verbundprojekten, in denen interdisziplinäres Arbeiten gefordert wird?

          Gibt es überhaupt ein Argument dafür, dass der Methodenpluralismus dem philologischen Kerngeschäft schade? Wer kulturwissenschaftliches Arbeiten auf thematische Zugriffe verkürzt, gibt dem Gegenmodell der „athematischen Lektüre“ eine polemische Note, die skeptisch stimmt. Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft entwickelt Deutungen für die Ästhetik literarischer Texte, indem sie strukturelle und formale Elemente im Zusammenspiel mit – statt: vor dem Hintergrund von – kulturell-sozialen Bedeutungszuweisungen betrachtet.

          Der falsche Gegensatz von Philologie und Literaturwissenschaft lässt sich als Versuch verstehen, eine durch den Methodenpluralismus ausgelöste Irritation zu bekämpfen. Die Ausrufung der philologischen Renaissance fällt zusammen mit einer Hochkonjunktur antiakademischer Kritik an der Postmoderne. Der wieder vermehrt vertretene Rückschritt zu textimmanenter Arbeit ist ganz sicher auch eine Antwort auf die politische Sprengkraft kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Als provokativ erfahren und abgewehrt wird vor allem die Thematisierung von Machtfragen in Interpretationen.

          Der Poststrukturalismus zeichnet sich aus durch Neubewertungen von Subjektivität – oft empfunden als narzisstische Kränkung –, und den Blick auf Macht- und Gewaltverhältnisse, die institutionell-strukturelle Aspekte ebenso wie Sprache oder Leiblichkeit betreffen. Die Überzeugung, dass sich die formal-ästhetische Gestaltung des Textes über ein Interesse für sozial-kulturelle Dynamiken erschließt, ist mit einer grundsätzlich machtsensiblen und -kritischen Perspektive verbunden.

          Eine historische Tiefendimension erhält die proklamierte Renaissance, wenn man bedenkt, dass die kulturwissenschaftliche Öffnung folgerichtig am Ende einer kritischen Auseinandersetzung mit werkimmanenten Lektüren stand, die im Kontext von 1968 begann. Anstatt in kulturkritisches Polemisieren einzustimmen und die Errungenschaften der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft gemeinsam mit der Postmoderne vom Tisch zu fegen, ist es für Fachdebatten produktiver, die Leistungen der jeweils eigenen Interpretationskunst herauszustellen.

          Hier kann eine praxeologische Sicht helfen. Begreift man Lektüre als Praktik, nicht als Methode, die jeweils von einer Theorie exklusiv für sich reklamiert wird, lösen sich manche Gegensätze von selbst auf. Close Reading etwa wird je nach Literaturverständnis in hermeneutischen Ansätzen ebenso wie in textimmanenten und dekonstruktivistischen Herangehensweisen praktiziert. Auch der von Möller herangezogene Band „Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie“ von Luisa Banki und Michael Scheffel spricht von „Lektüre als Praxis“. Nimmt man diesen Begriff der Praxis ernst, geht damit, wie ein Blick auf andere Rezensionen zeigt, nicht zwingend ein normativer Anspruch der Philologie einher.

          Der Bedeutungsverlust von Literatur in der Gegenwart und damit der Relevanzverlust des Gegenstandes ist die echte Krise, mit der sich die Philologie befassen muss. Sie betrifft Fragen des Kanons ebenso wie Fragen ästhetischer Erfahrung im Rahmen des Medienwandels. Dies ist eine Diskussion, die ohne interdisziplinäre Anschlüsse nicht geführt werden kann. Eine praxeologische Perspektive könnte die soziale Dimension jeglicher Praxis in den Blick rücken: Individuelle Leistungen schreiben sich immer in ein diskursives Feld ein, basieren auf geteilten Konventionen und Werten und profitieren von konstruktiven Methodendebatten und gemeinschaftlicher Textarbeit. Die Kooperation sollte auch in den Geisteswissenschaften – wo das gemeinschaftliche Publizieren weiterhin am wenigsten verbreitet ist – einen höheren Stellenwert einnehmen. Das könnte dabei helfen, sich von fachinternen Grabenkämpfen und krisenhaften Polemiken zu verabschieden.

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