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Methoden-Debatte : Literaturwissenschaftler lesen ungenau? Krisengerede!

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Patti Smith beim Close Reading Bild: Getty

Alle Methodenfragen sind politisch: Im Ruf nach einer Renaissance der Philologie verrät sich Misstrauen gegenüber dem Pluralismus. Eine Antwort auf Melanie Möller.

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          Bot Ihnen schon einmal jemand einen Ausweg aus einer Krise an, von der Sie gar nichts wussten? Als Literaturwissenschaftlerinnen kennen wir solche Situationen sehr gut. Wir arbeiten in verschiedensten Bereichen, widmen uns digitaler Editionswissenschaft, sozialwissenschaftlicher Leserforschung oder kulturwissenschaftlicher Analyse des Medienwandels und der Geschlechterbilder. Diskussionen über unterschiedliche Zugänge zu literarischen Texten zu führen und dabei die Potentiale und Limitierungen verschiedener, durchaus miteinander konkurrierender Theorien zu bewerten gehört zu unserem Alltag. Was aber, wenn jemand behauptet, dass genau diese differenzierten Debatten selbst Teil eines grundsätzlichen Problems seien?

          Unter der Überschrift „Lassen wir die Sache“ erschien am 1. Juni in der F.A.Z. ein Artikel, der unter dem Schlagwort „Renaissance der Philologie“ eine grundsätzliche methodische Neuausrichtung reklamiert. Diese sei nötig, da die „Arbeit am Text“ zu einem „Randphänomen“ geworden sei. Von Beiträgen, die einfache Dichotomien anbieten, geht häufig eine erhebliche Provokation aus. Sie kommen als Plädoyer für etwas daher, hier Rephilologisierung genannt, werten oft aber implizit eine Position ab. Im Artikel von Melanie Möller bleibt diese seltsam unkonkret. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Kritik auf den methodischen Pluralismus und ganz spezifisch auf eine kulturwissenschaftlich arbeitende Literaturwissenschaft zielt. Das Muster scheint bekannt: In Berichten über Jahrestagungen fachwissenschaftlicher Gesellschaften wird oft beklagt, dass kaum zu erkennen sei, was die großen Themen und Innovationen seien. Das Narrativ der Krise verstellt den Blick auf die Frage, was die Vielfältigkeit fachwissenschaftlicher Entwicklungen leistet. Darüber hinaus ist kritisch zu fragen, welche Vorstellungen von besseren früheren Verhältnissen in solchen Verfallsszenarien entworfen werden.

          Den Rahmen für solche Klagen bildet die vielbeschworene Krise der Geisteswissenschaften. Zwischen Rückblicken auf die Bologna-Reform, Fragen der Hochschulfinanzierung und Zukunftsaufgaben wie Digitalisierung sehen sich die Geisteswissenschaften einem erhöhten Druck ausgesetzt, ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen. Nun ist die Wiederholung von Krisendiagnostiken nicht notwendig ein Indiz dafür, dass es gar keine Krise gebe. Das Problem ist daher weniger, dass Fragen wiederholt werden, als dass sie kaum als Möglichkeit erscheinen, konkrete Probleme zu artikulieren. Denn explizit oder implizit werden in solchen Debatten Forderungskataloge an die Geisteswissenschaften formuliert. Diese Spezifik der Wissenschaftskommunikation ist mitzudenken, wenn einem breiten, nicht fachspezifischen Publikum Trends und Perspektiven präsentiert werden.

          Philologie contra Literaturwissenschaft?

          Dass die Latinistin Melanie Möller jetzt eine Renaissance der Philologie ausruft, ist verblüffend. Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde mit der Losung der Rephilologisierung die Öffnung der Literaturwissenschaft für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden kritisiert. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich aber aus der behaupteten Alternative „Rephilologisierung oder Erweiterung?“ ein differenzierter Umgang mit dem Cultural Turn entwickelt. Diskursanalyse, New Historicism oder auch interdisziplinäre Gedächtnisforschung sind Teil des Methodenparcours geworden, und ein fester Kanon hat sich etabliert. Dies bedeutet nicht, dass die methodische Reflexion ans Ende gekommen wäre, vielmehr sind unterschiedliche Modi zu besichtigen, wie das grundsätzlich veränderte Text-Kontext-Verständnis, das kulturwissenschaftliche Interpretationen auszeichnet, für „klassische“, dem Einzeltext verpflichtete Erkenntnisziele fruchtbar gemacht wird.

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