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Hanks Welt : Homeschooling als Zukunftsmodell?

Homeschooling in New Rochelle, New York, einem Hotspot der Corona-Pandemie in den Vereinigten Staaten Bild: AFP

Deutschland nimmt es normalerweise streng mit dem Schulzwang. Macht die Corona-Krise den Weg frei für mehr Unterricht zu Hause?

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          Gut, dass das Mädchen nicht mich, sondern ihre Patentante gefragt hat: Die nämlich, altphilologisch sattelfest, hatte keine Mühe, den grammatischen Unterschied zwischen Vokativ und Hortativ aus dem Ärmel zu schütteln. Ich wäre einfach nur blamiert und auch jetzt noch überfordert, pädagogisch zielführend das Problem zu lösen – obwohl auf „lateinlehrer.de“ eigentlich alles gut erklärt wird: Fugiamus! Lasst uns fliehen! Ein klarer Fall von Hortativ und zudem in diesen Corona-Zeiten unser aller Grundgefühl.

          Rainer Hank
          Freier Autor in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Ein ganzes Volk von Eltern, Großeltern (per Telefon) und Patentanten ist gerade dabei, zu Hauslehrern umzuschulen. Jedenfalls im Zweit- oder Drittberuf. Die Corona-Kleingruppe zu Hause macht den zivilisatorischen Fortschritt rückgängig, dem zufolge Arbeitsteilung sich als Motor der Effizienz erwiesen hat. Noch vor einem Monat wäre das Beschulen der Kinder durch die Eltern als krimineller Akt juristisch verfolgt worden. Jetzt gilt es als ein Ausdruck von Solidarität im Rahmen der neuen Stay-at-Home-Kultur. „Wir sind in nur einer Vormittagsstunde mit dem von der Lehrerin vorgegebenen Stoff durch“, erzählt ein Vater stolz, der tagesabwechselnd mit seiner Frau den Unterricht der Grundschul-Zwillinge übernimmt. Zu Hause muss man nicht warten, bis auch alle ADHS-Zappelphilippe in der letzten Reihe die Matheaufgaben heraushaben.

          Einen bundesweiten Großversuch zum Homeschooling – so etwas hat es hierzulande noch nie gegeben und hätte es in normalen Zeiten auch niemals gegeben. Jetzt zeigt sich: Im Zeitalter digitaler Unterstützung durch Tutorials, Nachhilfeplattformen und Lehrermaterialien funktioniert das Lernen zu Hause viel besser als früher in der analogen Welt. Falls man Corona etwas abgewinnen wollte, wäre es nicht das Schlechteste, würden die Erfahrungen der temporären Schulschließung dazu genutzt, über den deutschen Schulzwang kritisch nachzudenken.

          Der deutsche Bildungs-Sonderweg

          Dass hierzulande ein staatliches Bildungsmonopol existiert, dass es also ausschließlich vom Staat ausgebildeten Lehrern an staatlichen Schulen (oder vom Staat lizensierten Privatschulen) erlaubt ist, Kinder mit Mathe & Co. aufs Leben vorzubereiten, ist ein deutscher Sonderweg. Die meisten anderen Länder der Welt sind weniger rigoros. Es gibt sogar Staaten, in denen es ein Verfassungsrecht ist, dass Eltern selbst ihre Kinder unterrichten, wenn sie es wollen. In Kanada erhalten sie dafür bis zu 1000 Dollar monatlich vom Staat. Das soll für Chancengleichheit mit den steuerfinanzierten staatlichen Schulen sorgen.

          Der deutsche Sonderweg hat – wie meist – historische Gründe. Besonders rigoros geht es erst seit dem Reichsschulpflichtgesetz von 1938 zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man dann darauf bestanden, dass staatliche Schulbeamte dafür bürgen, dass Kinder im Geiste einer liberalen Demokratie und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erzogen werden. Ein Gedanke, der auch noch den berühmt-berüchtigten Radikalenerlass von 1972 trägt.

          Heute argumentiert man nicht mehr demokratietheoretisch, sondern gerechtigkeits- und chancengleichheitspolitisch: Im Vordergrund der Debatten um den Unterrichtsausfall während Corona steht die Sorge, die Schere zwischen Bildungsbürgerkindern und Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schichten könne sich weiten. Akademikereltern hat eine Lehrerin eigens geraten, nicht allzu viel mit den Kindern zu rechnen – das müsse sie hinterher ausbaden, wenn diese zu weit fortgeschritten wären. Ob die ehrgeizigen Eltern sich daran halten, bleibt abzuwarten. Im Zentrum steht die Egalisierungsfunktion der Schule. Hinzu kommt die Sozialisierungsfunktion: In der Schulklasse, abseits des familiären Milieus, sollen Kinder soziales Lernen üben.

          Interessant ist, dass die Qualität schulischer Bildung nicht als Argument für das staatliche Monopol benutzt wird. Das immerhin ist konsequent. Hätte die rigorose staatliche Schulpflicht Auswirkungen auf den Lernerfolg, müsste Deutschland in den Pisa-Tests ganz vorne mit dabei sein – was nicht der Fall ist. In Finnland, dem Pisa-Musterland, ist Homeschooling legal. Vorgeschrieben ist dort nur die Bildungspflicht, die durch staatliche Prüfungen, aber nicht durch staatlichen Unterricht nachgewiesen wird.

          Vorbild Wilhelm von Humboldt

          Nun muss man die Egalisierungs- und Sozialisierungsfunktion der Schule gar nicht bestreiten, um den hiesigen Bann familiärer Beschulung zu missbilligen. Ursprünglich sollte der Schulzwang lediglich verhindern, dass bildungsunwillige Eltern ihre Kinder zum Kartoffelausbuddeln und Getreideernten missbrauchen, anstatt sie in den Unterricht zu schicken. Doch warum wird es allen Eltern verboten? Das gerade hierzulande immer hochgehaltene Prinzip der Subsidiarität besagt: Der Staat muss erst dann einschreiten, wenn die Privaten versagen. Er muss Kinder nur dann vor ihren Eltern schützen, wenn er befürchtet, ihnen würde Bildung vorenthalten oder sie würden auf gefährliche Weise indoktriniert.

          Warum halten wir uns nicht an Wilhelm von Humboldt, der hierzulande doch als eine Art Bildungspapst gilt? Humboldts nicht genug zu empfehlende Frühschrift von 1792 mit dem schönen Titel „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen (sic!) der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ billigt dem Staat zwar das Recht und die Pflicht zu, im Interesse der Freiheit der Bürger für äußere und innere Sicherheit zu sorgen. Aber von einer Pflicht öffentlicher Erziehung will der Bildungsreformer nichts wissen: „Soll die Erziehung nur Menschen bilden, so bedarf es des Staates nicht“, schreibt Humboldt. Im Gegenteil: Staatliche Beschulung führe dazu, dass die Eltern die Verantwortung für die Aufzucht der Kinder an den Staat delegieren, wofür sie einen hohen Preis zahlen: Statt zu freien und gebildeten Menschen wird die Jugend zu Staatsbürgern, mithin zu Untertanen gemacht. Staatlich bestallte Lehrer, behauptet Humboldt frech, seien vor allem auf die nächste Beförderung fixiert, während das Wohl privater Erzieher vom Erfolg ihrer Arbeit abhänge.

          Rebellion und Strafe

          Während ich mich also derart in das furiose Plädoyer fürs Homeschooling hineinschreibe, geht ein Erfahrungsbericht eines engagierten Vaters per E-Mail in meinem Homeoffice ein: „Es war furchtbar heute, ich musste gegen die rebellische Stimmung beim Addieren und Subtrahieren drakonische Strafen androhen (doch keine Schnitzel Wiener Art zum Mittagessen und natürlich auch kein Fernsehen heute), was wiederum zu Tränenausbrüchen bei den Kindern und schlechtem Gewissen bei mir führte. Lesen ging dann nach dieser Krise viel besser. Weshalb ich jetzt doch zum Schnitzelklopfen schreite: Versöhnung. Aber die Fernsehserie bleibt gestrichen!“

          Was will man entgegnen? Homeschooling bedeutet ja nicht, dass die Eltern selbst zu nervenkranken Paukern werden müssen. Sie könnten Fachkräfte beschäftigen wie damals die Gontards in Frankfurt, die den Tübinger Dichter und Denker Friedrich Hölderlin angestellt haben (was bekanntlich ein Liebesdrama nach sich zog). Aber an all das ist in Corona-Zeiten natürlich nicht zu denken. Und selbst später dürfte es am Geld – und an der Knappheit von Hauslehrern und Hofmeistern scheitern.

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