Unterricht der Zukunft : „Digitalisierung ist kein pädagogisches Konzept“
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Tablets stapeln sich zunehmend in deutschen Schulen – und bringen neue Probleme. Bild: Picture-Alliance
In der Corona-Krise hat die Digitalisierung der Schulen Fahrt aufgenommen. Der Medientheoretiker Ralf Lankau findet, sie greife zu kurz und werde zu einer Kostenexplosion führen. Im Interview fordert er ein Umdenken.
Sie haben in zahlreichen F.A.Z.-Artikeln Kritik an der Digital-Euphorie an Schulen und Hochschulen geübt. Hat sich Ihre Haltung durch die Corona-Krise verändert?
Ralf Lankau: Meine Position hat sich eher geschärft, weil sich die Kritik an bestimmten Formaten bestätigt hat. Ich habe selbst auch im Sommersemester online unterrichtet, in Video-Konferenzen, und es hat sich herausgestellt, dass das viel mit Instruktion und wenig mit Diskurs oder Dialog zu tun hatte. In den Schulen sah es noch schlechter aus, weil viele mangelhaft ausgestattet waren. Das Problem dabei ist: Schulen wurden bislang für den Präsenzunterricht digital ausgestattet. Wenn also die Gelder für den „Digitalpakt Schule“ schon vor der Pandemie vollständig abgerufen und in eine bessere Ausstattung der Schulen investiert worden wären, hätte es in der Pandemie nichts geholfen. Es hätte eine funktionierende Infrastruktur in der Schule gegeben, aber keine Schüler. Das heißt: Der „Digitalpakt Schule“ muss angepasst werden im Hinblick auf eine Mischung aus Distanz- und Präsenzunterricht, wobei Präsenzunterricht das Ziel sein sollte. Lernen im Klassenverband mit Lehrkräften hat eine ganz andere Qualität. Man braucht den Dialog, man braucht das Sozialgefüge, man braucht den „Schutzraum Schule“.
Das Bundesbildungsministerium hat jetzt eine digitale Bildungsoffensive angekündigt – wobei der Begriff nicht neu ist, schon seit 2016 ist er im Gebrauch des Ministeriums. Wie beurteilen Sie diese neue corona-getriebene Aufbruchstimmung?
Ich halte das für den falschen Ansatz, weil wieder nur auf die Technik geschaut wird. Es wird nicht hinterfragt, welche soziale Aufgabe die Schule eigentlich hat. Was passiert, wenn der Sozialraum Schule ein weiteres Mal wegfällt, was können Schulleiter, Kollegien und die Ministerien tun, wenn tatsächlich wieder Schulen geschlossen werden müssen – gruppen- oder klassenweise? Das bleibt offen. Wie können wir die Betreuung oder den persönlichen Kontakt zu Schülerinnen und Schülern in der Distanz aufrecht erhalten?
Welche Art von Bildungsoffensive würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir zum einen wünschen, dass die Schulen deutlich besser ausgestattet werden. Wichtiger noch ist qualifiziertes Personal: Lehrkräfte, Mentoren und Tutoren. Als zweites würde ich mir wünschen, dass die Schulen vor Ort selbst entscheiden können, wofür sie das bereitgestellte Geld ausgeben, ob sie es in IT stecken oder ob sie vielleicht lieber Psychologen und Sozialarbeiter anstellen und Musikinstrumente oder Bücher anschaffen. Die Hoheit über Inhalte und Methodik liegt ja bei den Schulen.
Welchen digitalen Unterricht halten Sie überhaupt für sinnvoll? Wo ist er aus Ihrer Sicht eine Bereicherung?
Lernen mit digitalen Medien bietet sich zunächst an als Vorbereitung auf den Unterricht, etwa mit Skripten, Lehrfilmen, Lernprogrammen. Der offizielle Begriff ist „Flipped Classroom“ und besagt im Grunde: Wenn sich Schüler auf den Unterricht vorbereiten, können sie ihm besser folgen.
Muss man nicht auch an dieser Stelle schon aufpassen? Bezogen auf den Deutschunterricht zum Beispiel stellt sich die Frage: Lese ich mich in Kafkas Werk ein – oder schaue ich mir einführende Filme an? Wobei selbst die Öffentlich-Rechtlichen Sender ja inzwischen Schul-Inhalte anbieten. Irgendeine Form von Verdrängung ist also unvermeidbar.
Wir beobachten schon seit einiger Zeit, dass an Schulen Bildmedien immer stärker zum Nachteil der Textmedien eingesetzt werden. Nach meiner Überzeugung ist das – und das sage ich, obwohl ich Grafiker bin – im Schulbereich kritisch zu betrachten. Wenn ich mir Filme oder Theaterstücke anschaue, muss ich viel an Vorstellungskraft nicht mehr selbst aufbringen. Ich bin dann, provokativ gesagt, eher im Konsummodus. Das beobachte ich auch bei unseren Studierenden: Die Auseinandersetzung mit Text als Basis für die Entwicklung eigener Vorstellungen, geht verloren je stärker wir mit Bildmedien arbeiten und je früher wir damit anfangen. Selbst im naturwissenschaftlichen Bereich ist ein Schaubild oft besser als ein Film. Leider funktioniert Lernen nicht so, dass es gemütlich auf dem Sofa vor dem Bildschirm stattfindet. Es muss immer ergänzt werden durch eigene Aktivitäten. Wenn ich Schülern einen Lernfilm zeige, was ja sinnvoll sein kann, sollten sie in einem zweiten Schritt aufschreiben, was sie gesehen und verstanden haben. Wir wissen, dass digitale Medien als Ergänzung zum Präsenzunterricht sehr gut funktionieren, wenn das Lernklima gut ist, die Schülerinnen und Schüler nicht vereinzelt, sondern in Gruppen arbeiten und die Lehrkräfte geschult sind im Einsatz ergänzender digitaler Lehrmedien. Und da sich diese Voraussetzungen nicht von denen für einen erfolgreichen analogen Unterricht unterscheiden, ist es sinnvoll, die Fixierung auf die technische Codierung von Inhalten aufzugeben. Denn wir unterrichten ja immer mit Medien, abhängig vom Lebensalter, vom Fach, von der sozialen Gruppe. Und die Lehrpersönlichkeit entscheidet, welche Medien in der jeweiligen Situation am besten eingesetzt werden. Dieser Ansatz eröffnet den kompletten Medienbereich von analog bis digital und verkürzt den Blickwinkel nicht auf digitale Medien und schon gar nicht auf Online-Medien. Laptop- oder Tablet-Klassen sind keine pädagogischen Konzepte.
Haben Sie bei den vielen Förderprogrammen, die vor und während der Corona-Krise installiert wurden, noch den Überblick behalten? Ich zähle auf: Wir haben den Digitalpakt mit 5,5 Milliarden, vorgesehen für Infrastruktur, Bildungsangebote und vieles mehr, wir haben ein Sofortprogramm für Schülerlaptops in Höhe von einer halben Milliarde; der Corona-Aufbaufonds der EU stellt für Lehrerlaptops ebenfalls eine halbe Milliarde bereit. Der Bund beteiligt sich an der Finanzierung technischer Administratoren in den Schulen mit einer halben Milliarde. Außerdem gibt es noch die Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts (HPI), die mit 22 Millionen Euro unterstützt wird. Was halten Sie von diesen Programmen und den veranschlagten Summen?
Die Summen sind nicht ausreichend. Es gibt eine Berechnung von McKinsey, die den Digitalpakt und die Kosten für Lehrer- und Schülertablets zusammennimmt. Sie kommt auf mehr als zehn Milliarden Euro. Eine weitere Studie, von der GEW, kommt allein auf 25.000 bis 36.000 notwendige Informatikerstellen. Die GEW berechnet eine Investitionssumme von rund 21 Milliarden Euro. Wobei diese Summen noch nichts aussagen über die tatsächliche Qualität des Unterrichts, es geht hier nur um eine flächendeckende digitale Infrastruktur.
Wenn man die Schulen nur angemessen digitalisieren wollte, hätte man demnach mit zusätzlichen Bildungsausgaben zu rechnen.
Momentan werden die Weichen gestellt für eine sehr stark technische Aufrüstung der Schulen. Diese wird uns aber neue Probleme bescheren, weil IT eigentlich permanent upgedatet werden muss und Lizenzgebühren zu zahlen sind. Es wird ein extremer finanzieller Bedarf aufgebaut, der für die pädagogische Arbeit allenfalls bedingt gewinnbringend ist. Bei den Administratoren-Stellen frage ich mich außerdem, woher sie kommen sollen, sie fehlen ja schon in der Wirtschaft. Das würde bedeuten: Wir können die Erfordernisse der Digitalisierung gar nicht abdecken und müssen uns fragen, ob wir momentan in die richtige Richtung laufen. In solch einer Situation lagert man gerne an externe Provider aus, das entspricht dem Cloud-Konzept, das sich auch in vielen Industrien durchgesetzt hat. Bei diesem Ansatz ist nun vielleicht der technische Betrieb gewährleistet. Die Schulen handeln sich aber neue Probleme ein, solche, die die Datensicherheit betreffen: Wer hat Zugriff auf Schülerdaten, wo werden sie gespeichert, wie kann man sie schützen?
Nun unterstützt der Bund die Schul-Cloud des HPI. Tendenziell spart das Administratoren, außerdem wird Open-Source-Software verwendet. Schülerdaten sollen pseudonymisiert werden. Das klingt doch zunächst einmal gut.
Aus meiner Sicht sollte die IT des 21. Jahrhunderts nicht mehr auf zentralisierte, technisch homogene Strukturen zurückgreifen. Sie sind zu anfällig. Das sagt auch Tim Berners-Lee in seinem „Contract for the Web“. Es gibt nichts Schlimmeres als sensible Daten in einem einheitlichen Betriebssystem, denn ich gelange an sie mit einem einzigen Hack. Gewisse Standardisierungen oder Modul-Systeme sind bei Schulclouds sicher sinnvoll, aber die entsprechenden Einheiten sollten lokal, als Intranet und divers organisiert sein, sie sollten bei einem Provider liegen, als Edge-Computing. Ergänzend könnte man dann auf Ressourcen wie die Bildungsserver der Bundesländer oder andere bundesweite digitale Bibliotheken zurückgreifen. Wenn wir realisieren, wie anfällig digitale Infrastruktur ist – man kann ja täglich die neuesten Hacks bei Golem oder Heise verfolgen –, kann man nur den Schluss daraus ziehen, sich durch geschlossene, dezentralisierte Systeme gegen diese massiven Angriffe zu wappnen.
Der Pseudonymisierungsansatz, der den Vorteil hätte, dass man auch interaktive Lernsoftware recht unkompliziert bei weitgehender Datensicherheit einsetzen könnte, überzeugt Sie nicht?
„Digitalcourage“ hat kürzlich das Vorhaben der Innenministerkonferenz, die Steuer-Identifikationsnumer als lebenslange Personenkennziffer einzusetzen, an den Pranger gestellt und dafür den Big-Brother-Award vergeben. Die Vorstellung, jeder Mensch habe eine einzige Identifikationsnummer und könne sich damit überall ausweisen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es in einer stark digitalisierten Gesellschaft nicht machen sollte. Wenn ich über diese eine Nummer verfüge, kann ich damit viele Daten auf einmal abgreifen. Und bei der Pseudonymisierung in der HPI Schul-Cloud verhält es sich ähnlich: Die personenbezogenen Daten werden zwar nach außen hin unkenntlich gemacht, aber innerhalb des Systems, darauf hat Professor Christoph Meinel vom Hasso-Plattner-Institut selbst in einem Blogbeitrag hingewiesen, sind die Klarnamen hinterlegt. Die Pseudonymisierung zurückzuführen auf die Klarnamen ist, wenn ich im System einmal drin bin, relativ einfach. Und es ist nur eine Frage des Aufwands, jedes beliebige System zu hacken. Wir haben also zwei Probleme: Klarnamen sind im System hinterlegt und die Rechner mit den Klarnamen sind ans Netz angeschlossen. Lerndaten sind aber so intim, dass sie besser geschützt werden müssen. Die Systeme müssen daher so konzipiert sein, dass keine Rückschlüsse, keine Repersonalisierung von Schülerdaten möglich sind. Die Forderung dafür lautet Datensparsamkeit.
Man muss jedoch sagen, dass die HPI Schul-Cloud mit Datenschützern zusammenarbeitet und angibt, im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung zu arbeiten.
Klar, das Einhalten der DSGVO und die Kooperation mit Datenschutzbeauftragten der Länder ist Voraussetzung für jede Form von IT in Schulen – vor dem Speichern personenbezogener Daten. Es geht aber noch weiter. Die Server müssen in Deutschland stehen, die Verbindungen müssen verschlüsselt über VPN laufen. Wir brauchen, heißt das, die Hoheit nicht nur über die Daten, sondern auch über die Hardware. Das hat Herr Meinel in seinem Beitrag zur fehlenden Datensouveränität in der F.A.Z. vom 5. Oktober ja deutlich formuliert.
Doch zentralisierte Strukturen wie eine bundesweite HPI-Schul-Cloud sind aus Datenschutzgründen riskant, weil sie sehr viele Daten sammeln und attraktive Ziele des Hackings sind. Sinnvoller sind verteilte lokale Infrastrukturen mit nur lokalem Zugriff.
Stellt man mit einem stark lokalen Ansatz im Endeffekt nicht die Datensicherheit über die Pädagogik? Aus pädagogischer Sicht wäre es ja sinnvoll, im Rahmen des Gesetzes möglichst frei mit unterschiedlichen Medien umzugehen.
Nein, Datenschutz schützt ja keine Daten, sondern Grundrechte, in diesem Fall die Persönlichkeitsrechte von Minderjährigen. Es soll verhindert werden, dass von ihnen Personen- und Lernprofile angelegt werden. Lernsysteme können heute so scharf gestellt werden, dass sie permanent den gesamten Lernprozess protokollieren: Welche Fehler werden gemacht, wann werden Pausen eingelegt, wann geht die Konzentration zurück? Daher muss die entscheidende Frage lauten: Welche Daten werden überhaupt benötigt? Müssen tatsächlich Klarnamen hinterlegt werden – oder genügen auch Nicknames? Es ist nicht unsere Aufgabe, an Schulen Lern- oder Persönlichkeitsprofile unserer Schüler zu erstellen, im Gegenteil. Schüler müssen eine offene Zukunft haben, die nicht schon vorgeprägt ist durch ein Datenprofil.
Auf interaktive Lernprogramme müsste dann aber wohl verzichtet werden.
Nicht auf Interaktion, wohl aber auf das Protokollieren der Aktionen – beziehungsweise: Die Programme müssten möglichst datensparsam eingestellt werden. Warum sollten zum Beispiel Lehrer auf diese Interaktionsdaten zugreifen können? Warum können diese Lernprozesse nicht den Schülerinnen und Schülern überlassen werden? Wir brauchen in unserem Bildungssystem mehr Vertrauen in die einzelne Persönlichkeit und sollten ohnehin weniger mit Lernkontrollen und Lerndiagnosen arbeiten. Privatspähre ist dabei ganz entscheidend: Ich habe ein Recht darauf, Dinge unkontrolliert zu tun. Mit der neuen IT-Infrastruktur etabliert sich hingegen ein Paradigmenwechsel in der Pädagogik vom Ideal des Vermittelns und Lernens im Dialog hin zu einer permanenten Vermessung der Lernleistung. Dahinter steht die Forderung nach datengestützter Schulentwicklung. Dem nicht-messbaren pädagogischen Prozess soll eine Struktur übergestülpt werden, die aus der produzierenden Industrie kommt. In Gang gekommen ist dieser Paradigmenwechsel durch die empirische Bildungsforschung und die immer stärker werdende Position der Lernpsychologie.
Brauchen wir nicht auch eine Diskussion über eine Verbesserung der HPI Schul-Cloud? Was bringen die erheblichen Investitionen in das Projekt, wenn am Ende nur zwanzig oder dreißig Prozent der Schulen mitmachen und einzelne Bundesländer gar amerikanische Anbieter vorzuziehen planen?
Wenn man die HPI Schul-Cloud als digitale Bibliothek aufbaut, ohne Rückkanal als Erhebung von Schülerdaten, lässt sich darüber diskutieren. Auch in diesem Fall müsste man aber bei den Schulen ansetzen und dort fragen: Was braucht ihr an Materialien? Dann könnte man schauen, was man lokal vorhalten kann, was regional und was zentral. Wenn ein Lehrer den Unterricht gut vorbereitet, kann er sich die Medien, die er braucht, vorher auf seine Festplatte herunterladen. Dafür muss nicht die ganze Klasse online sein.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus
Ralf Lankau ist Grafiker und promovierter Kunstpädagoge. Er unterrichtet seit 1985 Gestaltungstechniken mit analogen und digitalen Techniken, seit 2002 als Professor für Mediengestaltung, Digitaldesign und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er ist Mitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. (vdw e.V.); Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (bildung-wissen.eu) und Gründungsmitglied des „Bündnis für Humane Bildung“ (aufwach-s-en.de).