Patrick Bronner Bild: Richard Kiefer
In den MINT-Fächern kann ChatGPT den Lehrer nicht ersetzen, aber Schüler neu motivieren, sagt der Pädagoge Patrick Bronner. Auf den richtigen Methodenmix komme es an.
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Herr Bronner, wie setzen Sie ChatGPT in der Schule ein?
Anfangs habe ich ChatGPT lehrerzentriert im Unterricht eingesetzt und vorgeführt. Neuerdings, seit Firmen in Deutschland datenschutzkonforme Zugänge über eine API-Schnittstelle für den Einsatz im Unterricht anbieten, können sich die Schülerinnen und Schüler über einen QR-Code einloggen und einen Arbeitsauftrag auf ihrem Tablet ausführen. Diese neue Möglichkeit ist wirklich großartig, denn ich kann ChatGPT personalisiert einsetzen und die Schülerinnen und Schüler von einer passiven zu einer aktiven Arbeit mit künstlicher Intelligenz (KI) bringen. Bei einer Google-Suche ist das ja so: Fast jeder Schüler hat das gleiche Suchergebnis, bei KI-Tools kommen ganz unterschiedliche Texte und Bilder heraus – und diese Ergebnisse müssen anschließend bewertet werden. Deshalb ist der zweite Schritt ganz wichtig: Stimmt das alles? Was ist falsch, wo muss ich noch einmal nachschauen? Gerade in der Mathematik gibt es bei ChatGPT manchmal noch ziemlich falsche Antworten. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, KI nicht als Copy-and-paste-Anwendung, sondern als Inspirationsmaschine zu nutzen.
Mit dem Überprüfungsschritt kann man im Grunde die Fehleranfälligkeit des Programms in eine Art Detektivarbeit ummünzen.
Ja, es macht den Schülern Spaß, Fehler in den Antworten von ChatGPT zu finden. Aber natürlich brauchen sie dafür ein solides Fachwissen – und gleichzeitig ein gutes Textverständnis. Kürzlich habe ich eine Klasse im Physikunterricht Methoden zur Bestimmung der Tiefe einer Schlucht anhand des freien Falls eines Steins mit GPT erarbeiten lassen. Die Motivation zur abstrakten Aufgabe ergab sich durch eine entsprechende Szene in einem „Peppa Wutz“-Videoclip. Von der KI wurden verschiedene Methoden Schritt für Schritt erklärt und waren meistens sehr gut und richtig. Dabei ist mir aufgefallen, wie anspruchsvoll und kognitiv aktivierend die Antworten in ihrer reinen Textform eigentlich sind. Bei einer Internetrecherche habe ich sofort ein Bild oder eine Skizze als Ergebnis und kann sehr schnell auch ein zum Thema passendes Erklärvideo anklicken. Mit ChatGPT wird fast zwangsläufig auch in den Naturwissenschaften das Textverständnis stärker gefördert.
Es ist also vorschnell zu sagen, ChatGPT schade der Sprachfähigkeit von Schülern, da es ihnen zu viel Arbeit abnimmt.
Die Schülerinnen und Schüler können sich in ChatGPT Erklärungen auf unterschiedlichem sprachlichem Niveau geben lassen. So formulieren Schülerinnen und Schüler, die noch nicht so weit sind: „Bitte erkläre mir den Sachverhalt verbal für die 4. Klasse der Grundschule“. Auf dieser Grundlage können sich die Lernenden dann langsam bis zum formelmäßigen Zusammenhang steigern. Darüber hinaus verfügt ChatGPT über Förder- und Diagnoseelemente, die bemerkenswert sind. Auch die erste Mathematikplattform eines Schulbuchverlags nutzt neuerdings KI: Es wird analysiert, auf welchem Niveau sich der Lernende befindet, und abhängig davon werden ihm Übungen digital zugewiesen, die sein Niveau steigern sollen. Diese Möglichkeiten möchte ich im Unterricht nicht mehr missen.
Was halten Sie von den KI-gestützten Korrekturhilfen, die es mit PEER von der TU München, mit DeepL Write und auch mit ChatGPT selbst neuerdings gibt – sind sie schon ausgereift genug?
Ich sehe hier ein enormes Potential. Gerade PEER von der TU München, das datenschutzkonform ist, kann Deutschlehrer enorm entlasten. Als Mathematiklehrer gehören für mich unbenotete Mathetests zur Lernprozessdiagnose über eine digitale Lernplattform zum Standard im Unterricht. Früher haben meine Kolleginnen und Kollegen gesagt: „Wenn es das doch auch für Deutsch gäbe!“ Jetzt gibt es das. Sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden können einen Aufsatz ohne persönliche Daten in PEER eingeben und erhalten sofort ein personalisiertes Feedback mit Verbesserungsvorschlägen.
Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass ChatGPT mittelfristig Lücken in Zeiten des Lehrermangels füllen kann?
Nein, auf keinen Fall. Die Corona-Krise hat ja wie durch ein Brennglas gezeigt, dass der Mittelpunkt des Unterrichts der engagierte Lehrer ist. Er motiviert die Klasse, die Schülerinnen und Schüler haben eine persönliche Beziehung zu ihm, ich kann als Lehrer im Klassenzimmer ganz anders auf Fragen und Unsicherheiten der Lerngruppe reagieren, als es ein Lernbot einzeln könnte. Gelungene Kommunikation auf Augenhöhe ist ein wesentliches Element guten Unterrichts. Deshalb setze ich ChatGPT im Klassenzimmer zeitlich begrenzt ein, zum Beispiel für zehn Minuten in den Tablet-Klassen. KI-Tools sind nur ein mögliches Lernwerkzeug und eine mögliche Methode unter vielen anderen. Das Ziel sind fließende Übergänge zwischen etablierten analogen Materialien und Methoden sowie den neuen digitalen Ansätzen im Unterricht.
Aber was macht man, wenn es keinen Lehrer mehr gibt, der vorne steht? Dann entwickeln sich plötzlich neue Phantasien, auch das war in der Pandemie zu sehen.
So weit sind wir zum Glück mit dem Lehrermangel noch nicht. Natürlich kann ich eine Unterrichtseinheit in eine digitale Lernumgebung auslagern, in der die Schülerinnen und Schüler mit Erklärvideos, Übungsaufgaben und Lerndiagnosen das Thema selbständig an ihrem Tablet erarbeiten. Lernen funktioniert aber am besten in einer guten Mischung aus Methoden, Sozialformen und Materialien. Der Lehrer muss haptische, analoge und digitale Zugänge ermöglichen, um möglichst viele Lerntypen zu erreichen. Denn das darf nicht unterschätzt werden: Jemand, der Schwierigkeiten mit dem Textverständnis hat, etwa weil seine Muttersprache nicht Deutsch ist, wird an ChatGPT scheitern. Bevor die Schülerinnen und Schüler dem Programm eine Aufgabe in Form einer Texteingabe (Prompt) geben, müssen sie sich genau überlegen, worum es in der von der KI zu erstellenden Antwort gehen soll.
Der Sachverhalt, den ich beleuchten möchte, muss im Prompt sehr klar und detailliert formuliert sein. Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben das nötige Textverständnis, um einen umfangreichen Prompt zu formulieren, um zum Beispiel ein fiktives Bewerbungsgespräch mit der KI zu simulieren. Deshalb ist der Methodenwechsel so wichtig, um wirklich alle Lernenden mitzunehmen. Die Leistungsschere darf sich im Unterricht durch den Einsatz von KI-Tools nicht noch weiter öffnen: Sowohl leistungsstärkere als auch leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler müssen aktiv lernen, kompetent mit Künstlicher Intelligenz umzugehen.
Die Formulierung von Prompts ist ja neu für die meisten Schüler, es bringt sie gewissermaßen in die Rolle von Machern. Was ist das für eine Kompetenz, die hier angesprochen wird?
Gerade heute Morgen habe ich den Schülerinnen und Schülern im Physikunterricht die Aufgabe gestellt, mithilfe von GPT mit Albert Einstein zu chatten, ein fiktives Gespräch mit der historischen Figur zu führen. Um zu einem Ergebnis zu kommen, mussten sie der Maschine einen Text in Form eines detaillierten Prompts vorgeben: „Ich möchte, dass du so antwortest wie der Physiker Albert Einstein, in der Sprache seiner Zeit. Du weißt alles, was Albert Einstein weiß.“ Ausführliche Texteingaben wie diese werden als Mega-Prompt bezeichnet. Diesen müssen die Schülerinnen und Schüler erfinden, die Qualität des Ergebnisses bewerten und damit den Prompt verbessern. Anschließend kann in der Klasse diskutiert werden, welcher Mega-Prompt die besten Ergebnisse liefert. Die richtige Prompt-Eingabe wurde heute Vormittag dann auf die Bild-KI übertragen: Hier sollte ein lizenzfreier Comic zu Albert Einstein erstellt werden, um den Chatverlauf im digitalen Heft zu visualisieren.
Die Frage ist aber, ob wir Prompt-Fähigkeiten überhaupt intensiv trainieren müssen. Im Moment arbeiten wir mit ChatGPT 3.5 beziehungsweise 4.0, das noch Prompts benötigt. Aber in einem halben Jahr kommt die nächste Version mit Autoprompting. Dann muss ich nur noch ein paar Stichworte eingeben, und die Maschine gibt mir die richtige Frage vor. Bei der Microsoft-Suchmaschine Bing sieht man im KI-Chat schon die Anfänge des Autoprompting: Wenn ich einen unklaren Prompt eingebe, wird dieser mehrfach korrigiert.
Lernen Schüler durch ChatGPT besser das Recherchieren? Jedes GPT-Ergebnis muss ja kritisch betrachtet und gegengecheckt werden, auch weil die Quellen fehlen.
Das ist richtig. Aber die Angabe der verwendeten Quellen in der Chat-Antwort ist bereits bei anderen Anwendungen wie abermals bei der Suchmaschine Bing oder bei Perplexity.ai Standard.
Beide KI-Tools greifen auch auf aktuelle Daten aus dem Internet zu und liefern passend dazu die verwendeten Quellen. Ich vermute, dass auch ChatGPT bald die Quellen angeben wird.
Es wird manchmal gesagt, dass durch kluge KI-Anwendungen mit Quellenangabe, Autoprompting sowie der Verknüpfung mit dem aktuellen Wissensstand der Unterricht obsolet wird. Das Gegenteil ist der Fall: Mit KI-Tools habe ich die Möglichkeit, kognitiv aktivierende Aufgaben in den Unterricht zu integrieren. Deshalb setze ich sie ein, nicht weil es gerade hip ist. Wenn ich es richtig einsetze, erhalte ich einen deutlichen Mehrwert.
Nutzen Sie die Möglichkeit zur Stundenvorbereitung mit ChatGPT?
Ich bin seit 13 Jahren Lehrer und schreibe keine seitenlangen Unterrichtsentwürfe mehr, bevor ich in den Unterricht gehe. Aber ich bringe meinen Referendaren bei, wie sie ChatGPT nutzen können: Man muss der KI nur das Thema der Stunde, die Klassenstufe und die Schulart mitteilen. Eine gute Einstiegsfrage für den Prompt lautet: „Formuliere mir zwei Lernziele zum Thema XY“, dann kann man eingeben: „Schreibe mir einen Unterrichtsentwurf als Tabelle und achte auf eine hohe Schüleraktivierung“. Das Ergebnis ist eine strukturierte Tabelle, die die Referendare als Inspirationsquelle nutzen können. Das ist doch genial: Das leere weiße Blatt mit einer Struktur zu füllen, um darauf kreativ aufbauen zu können. Aber die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer müssen natürlich vorher wissen, welche Faktoren eine gute Unterrichtsstunde ausmachen. Auch hier sollte zunächst eine solide didaktisch-methodische Wissensbasis vorhanden sein – erst dann ergibt KI Sinn.
Kann Künstliche Intelligenz den Lehrerberuf attraktiver machen?
Ich kann sagen, dass ChatGPT meinen beruflichen Alltag im letzten halben Jahr beflügelt hat. Es hat mir Spaß gemacht, darüber nachzudenken: Wie setze ich die neuen Möglichkeiten im Unterricht ein? Immer wieder überlege ich, ob es gerade Sinn ergibt, zum Stundenthema GPT einzusetzen.
Ich teile meine Unterrichtsideen auch über Twitter im sogenannten #TwitterLehrerzimmer und bekomme über die Plattform selbst viele neue Anregungen. Das ist ja das Schöne am Lehrerberuf, dass man am Puls der Zeit ist und sich mit den Schülerinnen und Schülern über neue gesellschaftliche Entwicklungen austauschen kann.
Wie müssen sich Unterricht und Hausaufgabenstellungen verändern, um auf ChatGPT angemessen zu reagieren? Wenn ich die falschen Aufgaben stelle, lassen sich die Schüler von der KI die Lösung in Sekunden geben und lernen nichts.
Aufgabenstellungen müssen in Zukunft offener, kompetenzorientierter und kollaborativer sein, am besten eingebettet in den Rahmen einer Projektarbeit, an deren Ende ein Lernprodukt wie ein Erklärvideo oder ein Podcast steht. Dann kommen auch die Mündlichkeit, die Kreativität und die Medienkompetenz zu ihrem Recht.
Aus meiner Sicht geht es jetzt genau darum, im oft sehr trägen Schulbetrieb die Lernkultur und die Prüfungskultur zu verändern. Die Lernenden müssen ja auch auf die neue Berufs- und Arbeitswelt vorbereitet werden. Und in welchem Beruf ist es auch nur annähernd so, dass eine neue Aufgabe in 45 Minuten Stillarbeit ohne Hilfsmittel mit einem Stift auf einem weißen Blatt Papier allein gelöst werden muss? Im Berufsleben werden Aufgaben heute meist im Team gelöst, mithilfe des Internets und einer Datenbankrecherche. Diese Fähigkeiten müssen wir auch bei Schülern fördern. Dank KI wird sich die Lernkultur grundlegend ändern müssen. Früher haben nur die engagiertesten Lehrerinnen und Lehrer digitale Projektarbeiten durchgeführt. Jetzt wird es zum Alltag werden müssen, weil die herkömmlichen Aufgaben einfach nicht mehr ausreichen. Und das ist gut so.
Welchen Ballast kann Schule bei einer Öffnung hin zur KI abwerfen?
Das stupide Auswendiglernen von Fakten und das immer wiederkehrende „drill and practice“. In der Mathematik wären das als Beispiel die stupiden hundert ähnlichen Übungsaufgaben, um den Algorithmus der zweiten Binomischen Formel zu festigen. Man muss die Grundlagen lernen, aber man muss nicht alles bis zum Ende üben. Auch hier kommt es auf einen guten Mix an, eine Mischung aus kompetenzorientierter Projektarbeit und den fachlichen Vorgaben des Lehrplans. Inhaltlich wird man Letzteres wahrscheinlich nicht ganz schaffen. Aber prozessbezogen lernen die Schülerinnen und Schüler doch viel mehr.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus.
Dr. Patrick Bronner unterrichtet am Friedrich-Gymnasium Freiburg die Fächer Mathematik und Physik, ist Fachberater für Unterrichtsentwicklung am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg (ZSL) und bildet Referendare am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg aus. Für den kompetenzorientierten Einsatz von Smartphones im Klassenzimmer erhielt er den Deutschen Lehrerpreis 2016.