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Lehrermangel : „In vier, fünf Jahren werden wir das große Drama erleben“

Werden keine Gegenmaßnahmen ergriffen, droht im deutschen Bildungssystem ein erheblicher Lehrermangel. Bild: imago images / photothek

Der Ökonom Wido Geis-Thöne hat eigene Berechnungen zum Lehrermangel in Deutschland vorgelegt. Im Gespräch erklärt er, warum vor allem in den MINT-Fächern Ungemach droht und wo die Grenzen des Quereinstiegs liegen.

          4 Min.

          Sie haben den Lehrermangel bis ins Jahr 2035 modelliert. Warum ist das momentan so wichtig?

          Uwe Ebbinghaus
          Redakteur im Feuilleton.

          Wir wissen, dass es bei den Geburten in den Jahren 2010 bis 2020 eine Zunahme gab; die ersten starken Jahrgänge sind bereits eingeschult worden, an den Grundschulen gibt es schon leichte Lehrkraftengpässe. Das große Drama werden wir aber erst in vier, fünf Jahren erleben, wenn diese Kinder in den weiterführenden Schulen ankommen. Eigentlich ist es schon zu spät, dem noch vernünftig entgegenzutreten, und es wird an anderer Stelle noch zu einer Verschärfung kommen. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo man das Problem erkannt und die Lehramtsstudiengänge für die Grundschule sehr erfolgreich geöffnet hatte. Doch es entscheiden sich nur wenige für das Hauptschullehramt, bei dem man es später häufig mit Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen zu tun bekommt. Zugleich werden wir in Zukunft verstärkt mit den Themen Digitalisierung oder grüne Technologie konfrontiert sein, Themen also, die ausgeprägte analytische Fähigkeiten erfordern. Bildungserfolge in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften sind hier eine wichtige Voraussetzung. Und da parallel die Zahl der Kinder auch aus nichtdeutschsprachigen Familien steigt, bei denen der Bildungserfolg besonders wichtig ist, sehen wir das Schulsystem stark herausgefordert. Das Kind ist schon ein bisschen in den Brunnen gefallen.

          Welche Faktoren machen die genaue Berechnung der Lehrkräftelücke so schwierig?

          Zunächst haben wir es bei den Lehrkräftebeständen mit zwei großen Unsicherheitsfaktoren zu tun. Der eine betrifft das Thema Pensionierung und Verrentung: Wie lange bleiben uns die Lehrkräfte erhalten? Hier gab es in den vergangenen Jahren immerhin eine positive Entwicklung. Der andere Unsicherheitsfaktor hat mit der Frage zu tun, wie viele Lehrkräfte in Teilzeit gehen oder familienbedingte Auszeiten nehmen. Unsicherheiten gibt es natürlich auch beim Nachwuchs: Wie groß ist das Interesse für den Lehrerberuf – welche Fächer sind besonders beliebt? Und auch beim Bedarf gibt es Unsicherheiten. Seit Corona scheint zum Beispiel das Interesse am Abitur nach einer Zeit der Stagnation wieder zugenommen zu haben. Bei zunehmender Akademisierung brauchen wir dann aber mehr Lehrkräfte in den Oberstufen. Außerdem haben wir in den letzten Wochen und Monaten erlebt, dass viele Kinder und Jugendliche aus der Ukraine zu uns gekommen sind. So etwas ist nicht abzusehen.

          Warum haben Sie eine eigene Berechnung vorgenommen? Es gibt aus diesem Jahr schon zwei zum Thema, eine von der Kultusministerkonferenz (KMK), eine von dem anerkannten Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).

          Wido Geis-Thöne befasst sich für das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) mit den Themen Bildung, Zuwanderung und Innovation.
          Wido Geis-Thöne befasst sich für das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) mit den Themen Bildung, Zuwanderung und Innovation. : Bild: IW Köln

          Da die schulische Bildung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland immer wichtiger wird, interessieren wir uns schon länger für das Thema.

          Welche Schwächen sehen Sie in der Berechnung der KMK?

          Die Berechnung ist wahnsinnig intransparent. Zugrunde liegen Zahlen der einzelnen Kultusministerien, die von der KMK nur zusammengetragen werden. Vor allem bei den angegebenen Zahlen der nachrückenden Lehrkräfte hat man sehr stark das Gefühl, dass sie zu optimistisch sind. In manchen Bundesländern sieht man zum Beispiel, dass beim Neueinstellungsangebot immer der gleiche Wert angegeben wird, obwohl sich die Abiturientenzahlen in dieser Zeit deutlich verändert haben. Ich würde von der Kultusministerkonferenz erwarten, dass verschiedene Szenarien berechnet werden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, was schlimmstenfalls passieren könnte. So etwas macht das Statistische Bundesamt bei den Bevölkerungsprognosen ja auch.

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