Jiddische Kultur : Kein schöner Land
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Die aus Minsk gebürtige Lehrerin Miriam Margolin (1896 bis 1968) arbeitete in Moskau für die jüdische Abteilung des Kommissariats für die Volkserziehung, das 1922 ihre „Geschichtchen für kleine Kinder“ (“Mayselekh far kleyninke kinderlekh“) herausgab, illustriert von Issacher Ber Ryback (1897 bis 1935). Gedruckt wurde das Buch in Berlin. Bild: Goethe-Museum Düsseldorf
Eine wegweisende Konferenz in Düsseldorf beleuchtet, wie sehr die jiddische Hochkultur vor dem Holocaust von ihrem europäischen Bezugsrahmen geprägt war.
Ein anderes Europa war denkbar, noch am Vorabend der Katastrophe. Der Name „Jiddischland“ bezog sich vor einem Jahrhundert zwar auf ein imaginäres, ein geistiges Territorium als Kulturheimat der weit über den Kontinent verstreuten Juden, aber dieses Land war weit mehr als ein Wunschgebilde, wie die Jiddistin und Künstlerin Efrat Gal-Ed jetzt in einem irisierenden Festvortrag im Düsseldorfer Goethe-Museum darlegte: nämlich eine konkrete Utopie, ein aggressionsfreier Gegenentwurf zu all den nationalistischen Ideologien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Es ging nicht um das, was heute Parallelgesellschaft heißt, denn der gemeinsame Kulturrahmen war ja überhaupt erst zu schaffen, und dabei orientierte man sich an der europäischen Moderne. Diese Zugehörigkeit ohne Abgrenzung verheißende Idee einer transnationalen Kulturlandschaft, die schon erste Schritte in die Wirklichkeit gemacht hatte, als ihr ein brutales Ende gemacht wurde, war auch eine Alternative zum Zionismus, der davon ausging, nur ein eigener Nationalstaat in Palästina könne die Leidensgeschichte der Juden in der Diaspora beenden.
Die Träume von „Jiddischland“ waren der Höhepunkt einer mehrere Jahrzehnte währenden jüdisch-säkularen Bewegung, die das von der jüdischen Intelligenzija lange als „Jargon“ und „verdorbenes Deutsch“ verachtete Jiddische mit Erfolg zur eigenen, dezidiert europäischen Kultursprache aufwertete. Die Klassiker der jiddischen Literatur – Mendele Mojcher-Sforim, Scholem Aleichem, Jizchok Lejb Peretz – zählten schnell zum Kanon der Weltliteratur. Efrat Gad-El zeichnete nach, wie Peretz schon im Jahre 1908, freilich vergeblich, für „eine Art transnationales Kultusministerium“ warb. Die 1918 in Kiew gegründete „Kultur-lige“ knüpfte an diesen Gedanken an. Die offizielle Anerkennung der jiddischen Literatur datiert auf den 20. Juni 1927, als der Internationale P.E.N.-Kongress auf Antrag des Warschauer jüdischen Journalisten- und Schriftstellerverbands die staatenlose jüdische Literatur auf Hebräisch und auf Jiddisch als gleichwertiges Mitglied aufnahm. In der Mitgliederliste wurde das „Land Jiddisch“ aufgeführt.
Zusammengerechnet kam man auf elf Millionen Bürger
Euphorie machte sich breit. Man sah, so vergegenwärtigte Efrat Gal-Ed die Stimmung der Pioniere, das „Fenster zu Europa“ plötzlich offenstehen. Jetzt nahm die kosmopolitische Idee von der Wortrepublik Jiddischland mit ihren elf Millionen „Bürgern“ Konturen an. Die Utopie wurde zunächst desto energischer verteidigt, je stärker die Bedrängnis wurde. Noch im September 1937, beim ersten transnationalen jiddischen Kulturkongress in Paris, waren die Teilnehmer voller Hoffnung, dass ihr neues Land, in dem die Sonne nicht untergehe, dazu beitragen werde, den Hass „zwischen Volk und Volk, zwischen Rasse und Rasse“ abzuschaffen. Nur vier Jahre später freilich betrauerte der jiddische Schriftsteller Moyshe Nadir in einem Brief an den Dichter Itzik Manger, dass mit den Menschen die Sprache ermordet wurde: „Schwer ist das Sterben einer jungen Literatur, die noch gar nicht gelebt hat.“ Nach der Schoah verlagerte sich das jiddische Leben in periphere Räume wie Buenos Aires oder New York. Die Vorrangstellung des Hebräischen in Israel beendete alle Träume von einem eigenen Jiddischland.
Um Efrat Gal-Eds Vortrag herum hatten Marion Aptroot und Andrea von Hülsen-Esch von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine internationale Tagung organisiert, die sich der Frage widmete, wie sehr das Projekt einer autarken jiddischen Kultur auf Europa hin ausgerichtet war. Auf vielfältige Weise legten die Beiträge Zeugnis davon ab, dass sich vor allem in den urbanen jiddischen Zentren Osteuropas die Intellektuellen stark mit der internationalen Moderne identifizierten.