Jacob Böhme in Osteuropa : In den Osten kommt das Licht
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Der Prophet der baltischen Unabhängigkeit
Ganz anders dagegen in Estland. Die Kulturwissenschaftler Aira Vosa und Mait Laas aus Tallinn reklamierten den Theosophen als wichtigen Inspirator für die estnische Nationalidentität. Schriftsteller und Journalisten wie Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803 bis 1882), Lydia Janssen Hoidola („Morgenröte“) oder Carl Robert Jacobson (1841 bis 1882) lasen Böhme als Theosophen der Befreiung. Deutsch-baltische Intellektuelle feierten im Umkreis der Herrnhuter Brüdergemeinde sein Licht-Reich als Vorbild für die politische Verselbständigung der damals noch unter russischer Herrschaft stehenden Region. Wie der Philosoph Wilhelm Schmidt-Biggemann aus Berlin zuspitzte: „Ein klarer Fall von Polit-Mystik.“
Jacob Böhmes Wirkung steht immer noch in einem Missverhältnis zum Editionszustand seiner Werke. Eine dreißigbändige kritische Ausgabe ist geplant. Ein Band mit Briefen wird wohl hoffentlich bald erscheinen, darüber hinaus gibt es aber nur Absichten. Die Situation der Druckvorlagen ist einigermaßen kompliziert. Zumal immer noch Entdeckungen gemacht werden, wie der australische Historiker Leigh Penman zur Überraschung der Spezialisten zeigte.
Beim Durchsehen einer Bibliographie, die Werner Buddecke in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts verfasste, dessen Böhme-Edition der Urschriften noch immer als unentbehrliche Zitiergrundlage gilt, stieß Penman auf eine achtbändige Sammlung von 1650, von der nur noch zwei komplette Exemplare, von ursprünglich 350, nachweisbar sind: in Breslau und in der Stadtbücherei Dessau. Penman kam bei seiner detektivischen Suche auf die Spur des polnischen Druckers Michal Karnal aus Thorn. Weitere Bücher von Karnal fand er in Hamburg und Warschau. Papier, Typographie, Einband und Schmuckgrafiken weisen deutlich auf dessen Werkstatt hin. Die Wiederentdeckung dieser ersten großen Zusammenfassung ist für die Böhme-Philologie kaum hoch genug einzuschätzen. Sie zeigt, dass der Schuster in Polen bekannt war.
Die erste Biographie
Hinzu kommt, dass der erste Biograph Böhmes, sein Vertrauter Abraham von Franckenberg (1593 bis 1652), hier zum ersten Mal seinen Lebensbericht publizierte. Nun ist ein Textabgleich möglich mit den gesicherten handgeschriebenen Manuskripten, die in der erweckungswilligen Oberschicht Schlesiens kursierten, gesammelt und teilweise bearbeitet wurden. Die Karnal-Ausgabe ist mit Marginalien der Herausgeber versehen, deren Auswertung bisher unbekannte Informationen verspricht.
Alle Beiträge der Tagung in Gotha bestätigten das international wachsende Interesse am Philosophicus Teutonicus. Rund um das von Martin Mulsow geleitete Forschungszentrum hat die Böhme-Kennerin Lucinda Martin ein Netzwerk gesponnen. In der Forschungsbibliothek Gotha sind etwa 10 000 Handschriftensätze, viele aus dem siebzehnten Jahrhundert, noch gar nicht katalogisiert.
Ein Reiz der Erforschung Böhmes besteht im Aufspüren der weitreichenden, oft subversiv geknüpften Verbindungen, die sich schon zu seinen Lebzeiten, dann nach seinem Tod 1624, im ganzen protestantischen Europa nachweisen lassen. Die Manuskripte waren eine kostbare Ware, von deren Verkauf mancher Treuhänder profitierte. Die fromme und irrationale Diktion seiner Schriften bleibt für positivistisch-materialistische Gemüter ein Ärgernis. Bis heute. Doch nach der Säkularisierung muss wenigstens hierzulande niemand mehr fürchten, wegen Verbreitung Böhmischer Gedanken ins Gefängnis gesteckt zu werden. Über Jahrhunderte war dies anders.