Hans Kelsen : Gerechtigkeit wäre zu viel verlangt
- -Aktualisiert am
Kühler Formalist, aufrechter Demokrat: Hans Kelsen Bild: Privat
Hans Kelsen war ein Vordenker der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Vereinten Nationen. Heute erfährt er eine Renaissance.
Wer war Hans Kelsen? Außerhalb der juristisch-historischen Fachwelt kannten ihn die meisten bislang nur als Antipoden des berüchtigten und ungleich berühmteren Carl Schmitt. Mit ihm stritt Kelsen 1931 über die Frage, wer „Hüter der Verfassung“ sein solle. Für Schmitt war es der Reichspräsident als Verkörperung des Volkswillens. Kelsen hingegen, geprägt vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, hielt das für eine vereinheitlichende Fiktion. Er setzte auf ein Verfassungsgericht, das nicht nur den Mehrheitswillen, sondern auch die Rechte und Freiheiten der Minderheiten im Blick haben sollte.
Die Bekanntheitsgrade der beiden Juristen stehen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer rechtspolitischen Wirkung. Anders als Schmitt hat Kelsen die Rechtslandschaft nachhaltig geprägt. Er konzipierte nach dem Untergang der Donaumonarchie die heute noch geltende Verfassung der Republik Österreich und begründete mit deren Verfassungsgerichtshof, an dem er selbst Richter war, die europäische Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verdankt Kelsens Pionierarbeit seine Existenz. Mittlerweile wird Kelsens Bedeutung, die über diese unmittelbar politischen Wirkungen noch weit hinausgeht, auch von einer größeren Öffentlichkeit entdeckt. Das ist nicht zuletzt der viel beachteten Kelsen-Biographie zu verdanken, die der Wiener Rechtshistoriker Thomas Olechowski unlängst vorgelegt hat.
Kein öffentlicher Intellektueller
Olechowski beleuchtet, wie sehr Kelsen in das politische und intellektuelle Wien der Zwanzigerjahre eingebunden war. Seine Sympathien gehörten den Sozialdemokraten, zu deren Wahl er 1927 gemeinsam mit prominenten Vertretern des künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens in einer Proklamation aufrief. Einer der Mitunterzeichner war Robert Musil. Der Schriftsteller erwähnt Kelsen einige Male in seinen Tagebüchern. Dem Politikwissenschaftler Reinhard Mehring zufolge hat Hans Kelsen sogar Eingang in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gefunden: Kelsens Rolle als Berater österreichischer Regierungsmitglieder spiegele sich in der Hauptfigur Ulrich, der als Sekretär die „Parallelaktion“ für das kaiserliche Thronjubiläum mit organisiert. Seine rechtsphilosophische Denkwelt soll hingegen in der Gestalt von Ulrichs Vater, einem karikierend gezeichneten Rechtsgelehrten, präsent sein (Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, Jg. 2020, Nr. 3/4).
1930 verließ Kelsen Wien. Von da an lebte er bis zu seinem Tod 1973 im Exil. Der erste Umzug – ins preußisch-deutsche Köln – geschah noch freiwillig. Die nächsten Ortswechsel – Genf, Prag und schließlich die Vereinigten Staaten – waren Stationen einer Flucht vor den Nationalsozialisten. Welche Herausforderung die andersartige Rechtskultur Amerikas für Kelsen darstellte, machte Thomas Olechowski in einem Vortrag am Hamburger Institut für Sozialforschung deutlich. Seine wissenschaftliche Produktivität – zunächst an der Harvard Law School, danach an der University of California in Berkeley – blieb jedoch ungebrochen. Kelsen, ein Vordenker der Vereinten Nationen, konzentrierte sich jetzt auf das Völkerrecht. Hinzu kamen demokratietheoretische Arbeiten und ideologiekritische Auseinandersetzungen mit dem Marxismus und dem Faschismus. Zu einem öffentlichen Intellektuellen ist Kelsen, anders als Carl Schmitt, aber nicht geworden, was Thomas Olechowski auf die verengte Rezeption durch die Rechtswissenschaft zurückführt.