Max-Planck-School of Cognition : Beobachter des Gehirns
- -Aktualisiert am
Vielschichtiges Organ: Anatomisch detailgetreuer Nachbau eines Gehirns Bild: picture-alliance/ ZB
Die Max-Planck-Schools wollen die Doktorandenbildung auf internationales Spitzenniveau bringen. Das Konzept scheint sich zu bewähren.
Im Jahr 1983 publizierte Benjamin Libet in der Zeitschrift „Brain“ einen Artikel, der bis heute Schockwellen verbreitet. Der amerikanische Physiologe behauptete, der Entschluss zu einer Handlung werde im Gehirn schon getroffen, bevor er uns überhaupt bewusst werde. Im Experiment hatte Libet seine Probanden gebeten, per Handbewegung anzuzeigen, wann sie sich zum Handeln entscheiden. Und siehe da: Im EEG zeigten sich schon rund eine halbe Sekunde vorher unbewusste Hirnsignale, denen Libet eine kausale Rolle zuschrieb. Das Bereitschaftspotential war geboren.
An den Begriff knüpfen sich seither große Fragen: Hat der Mensch einen freien Willen, oder sind wir Marionetten unseres Gehirns? Hätte der Mensch eine Würde, wenn er keine moralische Wahl hätte? Wäre er schuldfähig? In der Debatte über die Willensfreiheit spielte das Libet-Experiment eine wichtige Rolle. Neuere Studien ergaben jedoch, dass es, was die Zahl der Probanden betrifft, auf wackligen Füßen steht. Andere zogen in Zweifel, dass der genaue Zeitpunkt bei vielschichtigen Entscheidungen überhaupt genau bestimmt werden könne. Wieder andere beobachteten Handlungen ohne vorausgehendes Bereitschaftspotential und Bereitschaftspotentiale ohne nachfolgende Handlung. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Aaron Schurger zeigte im Jahr 2012 in einem viel beachteten Aufsatz, dass der Entscheidungsprozess auf ungerichteten, zufälligen Gehirnströmen beruht. Kurz: Bis heute weiß niemand so richtig, wofür das Bereitschaftspotential eigentlich steht.
Bojana Grujičić hat die einschlägigen Aufsätze zum Thema gelesen. Sie will herausfinden, ob es neben den zufälligen Gehirnströmen auch eine deterministische Variable gibt, die eine Entscheidung kausal vorbereitet. Es ist ja schwer vorstellbar, dass absichtsvolles Handeln aus einem völlig ungerichteten Vorgang hervorgeht. Das Bereitschaftspotential könnte nur die letzte Stufe des Entscheidungsprozesses sein, lautet ihre Hypothese, die sie derzeit am Londoner University College bei der Neurophilosophin Phyllis Illari untersucht.
Mit der Interdisziplinarität Ernst machen
Bojana Grujičić hat ihre Promotion vor zwei Jahren an der Max Planck School of Cognition begonnen. Sie gehört zum ersten Jahrgang der 2019 gestarteten Graduiertenschulen, die mit dem unbescheidenen Ziel angetreten sind, die deutsche Doktorandenausbildung auf internationales Spitzenniveau zu heben und die besten Nachwuchsforscher aus aller Welt anzuziehen. Drei solcher Schulen gibt es seither, neben der für Kognition noch eine zweite für Photonik und eine dritte für physikalische und chemische Lebensprozesse. Keine von ihnen hat einen festen Standort, man muss sie sich als Netzwerke vorstellen, die insgesamt 27 Universitäten und dreißig außeruniversitäre Institute miteinander verbinden, einschließlich zweier Dependancen im Ausland: des MPI für Psycholinguistik in Nijmegen und des University College London.
Von Martin Stratmann, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, stammt die Idee, die Schools müssten in ihrer Struktur die wissenschaftliche Exzellenz abbilden, die in Deutschland anders als in Ländern mit Elitehochschulen nicht an einem Ort versammelt ist. Damit fällt ihnen auch die Aufgabe zu, die Hochschulen mit den forschungsstarken außeruniversitären Instituten zusammenzubringen und mit der viel geforderten Interdisziplinarität Ernst zu machen. Die Kognitionswissenschaft ist dafür ein gutes Beispiel. Sie versammelt Philosophen, Psychologen, Neurowissenschaftler, Physiker, Mathematiker und zieht immer häufiger auch KI-Forscher an.
Bojana Grujičić begann etwa als Philosophiestudentin in Belgrad, machte ihren Master an der Berliner School for Mind and Brain, die Philosophie und Neurowissenschaft kombiniert. Im ersten Jahr an der Max Planck School, in dem die Doktoranden in Onlinekursen mit grundlegenden Methoden der Kognitionswissenschaft vertraut gemacht werden, brachte sie ihre neurowissenschaftlichen Kenntnisse auf ein neues Level. Sie hält es für aussichtslos, Probleme wie die Willensfreiheit ohne neurowissenschaftliche Fachkenntnisse zu behandeln. Genauso könnten die Hirnforscher vom konzeptuellen Verständnis der Philosophen profitieren. Sie selbst interessiere sich ja auch nicht für die nackten Forschungsdaten, sondern für die Konzepte, mit denen man sie erklärt.
Die Evaluation müssen die Schulen nicht fürchten
Wie alle Programmteilnehmer absolvierte Bojana Grujičić im ersten Jahr drei Laborpraktika an verschiedenen Orten, um neue Ideen und Methoden kennenzulernen. Währenddessen schärfte sie das Thema ihrer Doktorarbeit, die vom zweiten Programmjahr an in den Mittelpunkt rückt. Um die Themenfindung am Ende des ersten Jahres zu perfektionieren, gibt es seit einiger Zeit Vorgespräche, in denen der Doktorand und sein Wunschbetreuer herausfinden sollen, ob sie wirklich zueinander passen. Es ist dann aber immer noch möglich, das Thema zu ändern, wenn man auf andere Ideen kommt, man soll es sogar.
Bianca Serio und Ole Goltermann, die dem jüngsten, dritten Jahrgang angehören, werden im Zug ihrer Rotation demnächst von Leipzig nach Jülich und London ziehen. Dort werden sie neue computergestützte Methoden kennenlernen, die sie idealerweise ihren Betreuern an ihren Stammorten vermitteln. Über die Doktorandenausbildung soll so auch der Methodentransfer in der Wissenschaft angekurbelt werden. Das Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, an dem Serio und Goltermann gerade sind, ist das Gravitationszentrum der Graduiertenschule. Von hier aus koordiniert das Team um Natacha Mendes das verzweigte Gebilde. Die Doktoranden äußern sich zufrieden über die Betreuung. Man reagiere schnell und flexibel auf alle Wünsche.
Bianca Serio untersucht in Leipzig, wie sich Struktur und Funktion des Gehirns während der Menstruation verändern. Dass sie das tun, ist relativ unumstritten. Was es für mentale Folgen hat, ist wie alles, was das Wechselspiel von Gehirn und Psyche betrifft, noch ziemlich unklar. Ole Goltermann, wie Bianca Serio ein studierter Psychologe, will an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf einfache Entscheidungsprozesse algorithmisch so modellieren, dass sich Verhalten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt, etwa der Besuch eines Restaurants. Das wirft die Frage auf, ob Gehirnprozesse überhaupt einem algorithmischen Muster oder einer ganz anderen Logik folgen. Es ist viel Mathematik in der Kognitionswissenschaft, die Frage, nach welcher Mathematik Gehirnprozesse verlaufen, wird eher am Rande gestellt.
Das Bundesministerium fördert die drei Max Planck Schools während der siebenjährigen Pilotphase mit 48 Millionen Euro. Danach wird entschieden, wie es weitergeht. Die Evaluation müssen die Schulen nicht fürchten. Das Konzept ist aufwendig, aber durchdacht. Die jährlichen Bewerberzahlen haben sich auf mehr als tausend verdreifacht, nur rund fünfzig von ihnen können jeweils aufgenommen werden. Die hohe Zahl ausländischer Doktoranden lässt erkennen, dass die Welt auf die Schulen aufmerksam geworden ist. Man kann jetzt in Ruhe an der Qualität feilen.