Lebensführung in der Pandemie : Wie man Distanz gewinnt
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Warteschlange in Berlin Bild: dpa
Das Virus verändert das Spiel von Nähe und Distanz. Aber es ändert nicht alles, wie manche Krisenrhetorik glauben macht.
Menschen existieren nicht einfach, sie fügen sich nicht nahtlos in eine Umwelt ein, sondern nehmen ihr Leben in die Hand und gestalten ihre Welt. Oder anders ausgedrückt: Menschen leben, indem sie ihr Leben führen. In diesem Kerngedanken der philosophischen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts steckt auch die These, dass Menschen zu sich Stellung nehmen, wozu ein Bild, eine „Deutungsformel“ gehört. Ohne eine solche Deutungsformel steht die natürliche Existenz des Menschen als kulturelles Lebewesen auf dem Spiel – als ein Lebewesen, das etwas auf sich und seine Welt hält.
Angesichts der aktuellen Krisenlage sind einige Deutungen im Umlauf, deren Tauglichkeit durchaus fragwürdig ist. Denn weder ist ein von Carl Schmitt inspirierter Ausnahmezustand ausgerufen, noch leben wir in einer paradoxen Situation von Nähe und Distanz, die nicht gehandhabt werden könne. Es ist demgegenüber gerade der Topos der sozialen Distanzierung, in dem mehr steckt als eine schlichte Verwaltungsverordnung. Mit Distanz und Distanzierung ist zugleich das Prinzip angedeutet, nicht nur ein Leben zu haben, sondern ein Leben zu führen. Möglichkeiten der Distanzierung bestimmen das menschliche Leben und die Welt des Menschen, die Kultur.
Unter den Bedingungen einer sich rasant ausbreitenden, lebensbedrohlichen Pandemie und den damit einhergehenden rigorosen Maßnahmen der Eindämmung, könnte man allerdings meinen, dass sowohl die menschliche Lebensführung außer Kraft gesetzt als auch die Deutungsmuster unserer Existenz abgeschafft worden sind. Menschen, so einige unüberhörbare Stimmen, seien in räumlichem Abstand voneinander zueinander nicht mehr in der Lage, ihr Leben zu führen. Und bewährte Deutungsformeln unseres persönlichen, sozialen und politischen Selbstverständnisses gingen verloren, etwa dasjenige der Selbstentfaltung.
Filmreife Dystopie
Doch ist eine solche Angst berechtigt? Leben wir wirklich in einem nicht mehr kontrollierbaren und auf Dauer gestellten politischen Ausnahmezustand? Und ist soziale Distanz etwas Ungewöhnliches, Fremdartiges, Bedrohliches, das man fürchten müsste?
Wird die Versammlungsfreiheit zeitweilig beschränkt, werden Schulen und Universitäten, aber auch teilweise Geschäfte befristet geschlossen und der öffentliche sowie private Raum stark reglementiert, dann erkennt Giorgio Agamben darin einen politisch diktierten Ausnahmezustand, der zum Normalfall erklärt wird. Die menschliche Existenz werde auf das pure Faktum des nackten Lebens reduziert, Freiheitsrechte würden grundsätzlich in Frage gestellt. Agamben meint, eine solche Entwicklung aktuell in Italien zu beobachten angesichts der strikten Maßnahmen zur Bekämpfung der dortigen Corona-Epidemie.
Es ähnelt allerdings eher einer filmreifen Dystopie, zu glauben, dass dies alle Regierungen der Welt unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Verfasstheit und ideologischen Ausrichtung gleichzeitig tun und sich auch noch die komplette Menschheit einem solchen Diktat widerspruchslos fügt. Und es hilft auch nichts, einen solchen Ausnahmezustand wie Agamben herbeireden zu wollen.